Die Amerikanerin
es ihm nicht gelang, sie zu entspannen.
Es war eine laue Nacht. Trotz seiner Müdigkeit verspürte Franco kein Bedürfnis nach seinem Bett. Stattdessen zündete er sich eine Zigarette an und ging hinaus auf den schmalen Balkon, der die ganze Länge des Apartments einnahm. Obwohl es im zweitobersten Stockwerk eines achtzehnstöckigen Hauses lag, hatte es keine besondere Aussicht zu bieten: Zur Rechten sah man ein Stück vom Hafen, zur Linken die Rückwand einer Druckerei, aus deren Kamin wie in jeder Nacht stinkender Rauch quoll. Franco nahm an, dass dort eine Tageszeitung gedruckt wurde, auch wenn es keine der großen sein konnte.
Er starrte auf das glühende Ende seiner Zigarette.
Zu Hause in Genua würde längst die nächtliche Sinfonie der Grillen begonnen haben, deren Schnarren von den lauen Winden, die vom Meer kamen, in die Höhe gehoben und in den letzten Winkel des Palazzos getragen wurde. Das schwache Sichellicht des Mondes würde den grünen Marmorfliesen des Innenhofes einen silbernen Schimmer verleihen. Von den Weinbergen würde ein süßer Duft wehen und verheißungsvoll von den Beeren schwärmen, die an den Rebstöcken genährt wurden.
Der Zigarettenrauch verlor seine Würze. Franco hatte einen modrigen Geschmack auf der Zunge wie von einer verfaulten Zitrone.
Bei keinem seiner vorherigen Besuche in New York war es vorgekommen, dass jemand den Wein, den seine Familie anbaute, kritisierte! Dass dies einer wagen würde, hätte er nicht für möglich gehalten.
Er warf seine Zigarette in hohem Bogen vom Balkon. Es musste etwas geschehen! Er konnte nicht zulassen, dass die jahrhundertealte Winzertradition seiner Familie beschädigt wurde.
Was sein Vater zu diesem Vorfall sagen würde, konnte er sich lebhaft vorstellen:
Du musst härter durchgreifen. Solchen Schwätzern gehört das Maul gestopft, bevor sie auch nur Mamma mia sagen können! Wären unsere Vorfahren alle so gutmütige Trottel gewesen wie mein Sohn, hätte unsere Familie keine vierhundert Jahre Bestand gehabt. Willst du der erste Conte de Lucca sein, der unseren guten Ruf in Gefahr bringt?
Und so weiter. Und so weiter.
Franco lachte bitter auf. Auf den Gedanken, dass man den Ruf der Familie auch damit sichern konnte, Qualitätswein anzubauen, würde sein Vater nicht kommen! Nein, der alte Conte hatte seine eigenen Methoden. Obwohl sie ihm oft zuwider waren, musste Franco zugeben, dass sie – auf ihre Art – funktionierten: Obwohl Ligurien von Natur aus kein ausgesprochenes Weinbaugebiet war wie beispielsweise die Lombardei oder die Gegend rund um Venedig, gab es in ganz Italien keine Familie, die mehr Wein nach Amerika exportierte. Es hatte damit zu tun, dass der Conte alles an Rebensaft aufkaufte, was angeboten wurde – auf Qualität wurde dabei weniger geachtet, solange der Preis stimmte.
»Wein wird nur dann gut, wenn der liebe Gott Sonne und Regen im richtigen Maß schenkt!«, klangen Franco auf einmal die Worte seiner Großmutter Graziella im Ohr. Die Erinnerung an die zierliche, elegante Frau ließ ihn lächeln. Von Kindesbeinen an hatte sie ihn mit in die Weinberge genommen. Als kleiner Bub war er an ihrer Hand gegangen, aber die letzten Jahre, als sie nicht mehr so gut zu Fuß gewesen war, geschah es umgekehrt. Da hatte er ihren rechten Arm gestützt, während sie links einen Gehstock zu Hilfenahm, dessen oberes Ende sie in Form einer Weintraube hatte versilbern lassen.
Nicht sein Vater hatte ihm die Liebe zur Winzerei mitgegeben – es war Großmutter Graziella gewesen!
Sonne und Regen im richtigen Maß, und wenn der liebe Gott besonders gut zu dir ist, dann schenkt er dir noch eine Winzerin dazu, deren Liebe die Trauben besser wachsen lässt als jede noch so moderne Kultivierungsart! Die Liebe einer Frau lässt jedes winzige Pflänzchen gedeihen. Nichts ist stärker, mein Junge.
Die Liebe einer Frau …
Um Francos Herz ballte sich eine Faust zusammen.
Wenn man sie verlor, verkümmerte jedes bisschen Leben, das in einem steckte.
Und plötzlich war er erneut weit weg in Zeit und Raum.
Es war vor vielen Jahren gewesen. Franco war Anfang zwanzig und hatte sein Studium der Wirtschaftswissenschaften in Rom eben beendet, als sie ihm im wahrsten Sinne des Wortes über den Weg lief: Er kam gerade aus der Administration der Universität, hatte dort letzte Formalitäten erledigt, als er mit Serena Val’Dobbio zusammenstieß. Sie war als eine der ersten Frauen zum Studium an der ehrwürdigen Akademie zugelassen worden
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