Die Amerikanerin
versuchst, dich auf deine Arbeit zu konzentrieren. Du musst ausgehen, Spaß haben, interessante Leute kennenlernen. Und vor allem …« – sie hob einen Zeigefinger – »vor allem solltest du mit ein paar Leuten reden, die sich mit Haut und Haaren ihrer Kunst verschrieben haben. Diese Hampelmänner, die du in den Theatern am Times Square zu hören und sehen bekommst, kann man nämlich weiß Gott nicht Künstler nennen, auch wenn deine verehrte Schwester das anders sieht! Das Gleiche gilt für die Galerien in der Fifth Avenue. Kommerz ist das, mehr nicht.« Sie winkte ab.
»Du hast Glück, weißt du das?«, sagte sie dann. »Heute Nachmittag gibt meine beste Freundin, Sherlain, eine Lesung. Sie ist eine der großartigsten Dichterinnen, die unserLand je gesehen hat! Ich habe schon etliche ihrer Gedichte in einen Tanz verwandelt. Wenn ich auch zugeben muss, dass ihre Stücke für meinen Geschmack ein wenig zu … düster sind. Doch authentisch sind sie allemal. Am besten, wir gehen gleich los.« Rasch rückte sie ihren Stuhl nach hinten. »Herumsitzen und grübeln hat noch keinem geholfen. Also, worauf wartest du noch?«
»Jetzt? Eine Dichterlesung? Ich weiß nicht … Eigentlich wollte meine Schwester …«
Ruth hatte vorgeschlagen, alte Fotografien anzuschauen. Als sie am Vorabend mit einem Stapel Fotoalben angekommen war, hatte Marie zuerst gar nicht glauben wollen, dass diese Unmenge an Bildern aus Lauscha stammte. Sicher, ob es ein Geburtstag der Zwillinge oder die Einweihung des neuen Lagers in Sonneberg gewesen war – Johanna hatte häufig einen Fotografen bestellt, um wichtige Ereignisse festzuhalten, und offenbar hatte sie jedes Mal auch ein paar Bilder nach Amerika geschickt. Einmal hatte Johanna sogar darauf bestanden, dass ein Fotograf Marie bei der Arbeit am Bolg fotografierte. Der Mann hatte nicht schlecht geflucht, weil ihm die Ausleuchtung wegen der Gasflamme so viel Mühe bereitete. Am Ende war das Bild doch gelungen, und Johanna hatte zu Maries Verlegenheit darauf bestanden, es ans Ende des Musterkataloges zu setzen. »Frauenhände erschaffen hier filigrane, gläserne Kunst«, hatte sie unter das Bild drucken lassen. Den Kunden schien es gefallen zu haben – in jenem Jahr war ihr Auftragsbuch besonders dick gefüllt gewesen!
Marie lächelte. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, wieder einmal in alten Erinnerungen zu kramen. Andererseits: Wenn Pandora schon so nett war und ihr zuliebe … Sie schnappte ihre Jacke. Die Fotoalben liefen schließlich nicht davon.
»Auf zur wahren Kunst!«Es war kurz nach ein Uhr mittags, als Wanda endlich vor dem Tor der Mantelfabrik ankam. Eigentlich hätte sie schon Punkt ein Uhr da sein sollen, jedenfalls hatte das Mister Helmstedt, ihr zukünftiger Chef, so gewollt. Doch zuerst war Wanda einen Block zu früh nach Osten abgebogen und hatte wieder ein Stück zurückgehen müssen. Als sie dann endlich im richtigen Viertel war, hatte sie sich nicht mehr genau daran erinnert, wo die Fabrik lag, und war eine Zeitlang zwischen den Gebäuden, von denen kaum eines eine Hausnummer trug, herumgeirrt. Erhitzt und durstig hatte sie schließlich von weitem das riesige Eckhaus, in dem die Mantelfabrikation untergebracht war, wiedererkannt. Ihre Handtasche unter den Arm geklemmt, war sie darauf zugerannt.
Hoffentlich nimmt Mister Helmstedt mir meine Verspätung nicht übel, dachte sie bang und wunderte sich im selben Moment, dass noch so viele andere Frauen vor dem Tor der Fabrik standen. Waren die womöglich alle für ein Uhr bestellt?
»Streik?!« Verwirrt starrte Wanda von einem glühenden Augenpaar zum nächsten. »Aber heute ist doch mein erster Arbeitstag!«
Die Frauen, die ihre Bemerkung gehört hatten, lachten.
»Das kannst du vergessen!«, sagte eine, die mit verschränkten Armen vor dem Tor stand. Sie war offensichtlich die Anführerin und sprach mit so starkem Akzent, dass Wanda Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen.
»Wir vom Bund deutscher sozialistischer Arbeiterinnen organisieren diesen Streik. Und wir werden eine Niederlage wie beim letzten Mal nicht dulden!«, schrie sie Wanda ins Gesicht, als hätte diese die Niederlage zu verantworten gehabt.
Unwillkürlich trat Wanda einen Schritt zurück, wurdeaber im nächsten Moment schon wieder unsanft nach vorn geschubst.
Das durfte doch nicht wahr sein!
Erst allmählich begriff sie, was das verschlossene Tor und die aufgebrachte Frauenmenge für sie bedeuteten: Drinnen würde ihr zukünftiger
Weitere Kostenlose Bücher