Die Amerikanerin
endlos langen, einsamen Gängen!«
Als er nichts erwiderte, sagte sie: »Außerdem weißt du ganz genau, warum ich die Nähe zu all den Künstlern suche.« Sie machte ein unglückliches Gesicht. »Ach Franco – was ist nur los mit mir? Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich wie jetzt – warum aber kann ich dieses schöne Gefühl nicht auf meinen Zeichenblock bannen?!«
»Nicht weinen, mia cara . Ich kann nicht zusehen, wie du dich quälst.« Er beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber. »Deine Freundinnen schleppen dich von einer Veranstaltung zur nächsten, als wärst du ein Kurgast, der zuerst seinen Kopf und dann seine Hände kurieren muss!«
Seine Bemerkung entlockte ihr ein kleines Lächeln.
»Du bist doch nicht krank! Trotzdem tut Pandora so, als ob sie dich therapieren müsste! Wenn ich nur an diesen Free Speech Evening denke, den sie uns letzte Woche eingebrockt hat! Mir ist heute noch schleierhaft, welchen Sinn das gehabt haben soll.« Er verdrehte die Augen. »Die haben die Themen so schnell gewechselt, wie eine Bergziege von einem Felsbrocken zum anderen springt: die Gleichberechtigung der Frauen, die russische Revolution, Tolstoi, die freie Liebe …«
»Was hast du gegen die freie Liebe?«, antwortete Marie mit einem dünnen Lächeln. Zärtlich strich sie ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie wollte sich nicht mit Franco streiten.
»Und dann der Ausflug vorletzte Woche mit diesem Fotografen Harrison – den habe ich Pandora immer noch nicht verziehen!« Franco ballte eine Hand zur Faust.
»Aber warum? Fandest du es nicht auch interessant, einmal die düstere Seite der Stadt kennenzulernen und nicht ewig in all dem Jugendstilglanz zu schwelgen?«
»Die düstere Seite der Stadt? Davon braucht mir kein dahergelaufener Fotograf etwas zu erzählen! Und dann diese schrecklichen Fotos, die er macht! Glaubst du, die Menschen, die zusammengepfercht wie Tiere hausen, lassen sich gern von ihm fotografieren? Von wegen künstlerisch wertvoll! Der macht doch mit dem Elend der Leute ein gutes Geschäft.« Wütend scheuchte Franco eine besonders dreiste Möwe fort, die sich am Tischrand niederlassen wollte. »Dass du nach diesem Ausflug in die Slums tagelang Alpträume hattest, ist wohl auch künstlerisch wertvoll! «
»Die Bilder dieser armen Seelen werde ich mein Leben lang mit mir tragen.« Marie wich seinem dunklen Blick aus. Eigentlich wollte sie dieses Gespräch nicht mehr weiterführen, dennoch fühlte sie sich verpflichtet, hinzuzufügen: »Harrison sagt, es waren Männer und Frauen, die diese Slums gebaut haben, also müssen auch Männer und Frauen sie wieder beseitigen! Ich wünsche mir so sehr, dass es gelingen wird!«
»Dieser Harrison und all die anderen nehmen sich so furchtbar wichtig! Jeder will ach so bedeutend sein!«, höhnte Franco.
»Aber es ist doch gut, wenn Menschen etwas verändern wollen, oder?«
»Was verändern sie denn, mia cara ? Die sitzen in ihren Diskutierrunden, und draußen dreht sich die Welt immer schneller und schneller. Und keiner von denen merkt etwas davon!«
Betroffen schaute Marie auf den Berg schwarzer Muschelschalen, der sich auf ihrem Teller türmte.
»In deinen Augen ist das, was diese Menschen tun, vielleicht nichts Besonderes. Doch ich für meinen Teil habe noch nie jemanden so tanzen sehen wie Pandora. Und ich habe noch nie so anrührende Gedichte gehört wie die von Sherlain. Du selbst hast gesagt, dass sie dir gefallen! Wenn ich mit den Leuten in Greenwich Village zusammen bin, ist das wie eine Art Familie: Jeder hat seine ureigene Passion, und darin sind wir alle verbunden. Das müsstest du doch verstehen!«, rief sie verzweifelt. »Dass ich zurzeit meine Kunst nicht ausüben kann, akzeptieren sie auch. Keiner guckt mich deswegen schräg an. Und jeder meint, ich müsse nur genügend neue Inspirationen sammeln, dann würde alles wieder in Fluss geraten.«
»Glaubst du, ein Rebstock würde mehr Früchte tragen, wenn ich mich vor ihn hinsetze und ihn tagein, tagaus beschwöre? Ist es nicht besser, ihn in Ruhe wachsen zu lassen?«
Fragend hob Franco ihr Kinn an, doch Marie antwortete ihm nicht. »Dieses krampfhafte Suchen ist der falsche Weg, glaube mir! Warum genießt du nicht einfach das Leben? So wie heute. Manche Dinge kann man einfach nicht erzwingen, man muss ihnen ihren Lauf lassen.«
Marie zerkrümelte ein weiteres Stück Brot und warf es den lauernden Möwen zu. Ein heftiges Picken um die begehrten Krumen
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