Die Amerikanerin
dem Fest zurückgegangen, als wäre nichts gewesen.«
»Deine Großmutter muss eine sehr gute und liebe Frau gewesen sein«, sagte Marie.
»Und eine kluge obendrein!« Franco seufzte. »Was würde ich für ihr Wissen über Wein geben! Sie brauchte einen Rebstock im Frühjahr nur anzuschauen, um zu wissen, ob man im Herbst eine gute Ernte von ihm erwarten konnte. Als ich noch ganz klein war, habe ich geglaubt, allein durch die Kraft ihrer Berührung würde sie die Reben zum Tragen bringen! Mamma mia, ihr lag die Winzerei wirklich im Blut!«
Marie gab ihm einen kleinen Schubs. »Das gilt doch für dich genauso! Ich habe noch niemanden kennengelernt, der so begeistert über Wein reden kann wie du.«
»Langweile ich dich mit meinen Geschichten? Wenn das so ist, musst du es mir sagen. Ich will nicht …«
»Pssst!« Sie küsste ihn. »Ich liebe deine Geschichten. Wenn ich dir zuhöre, habe ich das Gefühl, mir erschließt sich eine ganz neue Welt. Und obwohl diese Welt fremd für mich ist, kommt sie mir bekannt vor. Dieses … Weitergeben einer Leidenschaft von Generation zu Generation – das ist doch in meiner Familie nicht anders! Bei uns ist es die Glasbläserei, bei euch die Winzerei.« Sie lachte glücklich. »Kein Wunder, dass wir uns so gut verstehen!«
Franco stimmte in ihr Lachen ein, doch tief drinnen spürte er eine Beklommenheit, die er nicht abschütteln konnte. Wie gern hätte er die Leichtigkeit, mit der Marie Gemeinsamkeiten zwischen ihnen feststellte, geteilt! Doch sie machte ihm damit nur aufs Neue bewusst, wie weit er sich in Wahrheit schon von seinen ursprünglichen Träumen verabschiedet hatte, auch wenn er ihr gegenüber etwas anderes vorgab. Zurück blieb ein tiefes Sehnen, in das sich jeden Tag, den er Marie länger kannte, mehr Hoffnung mischte. Er und sie gemeinsam, ihre Liebe so stark, dass sie Berge versetzen konnte – an diesen Gedanken klammerte er sich. Er war seine Erlösung.
Später am Abend saßen sie in einem der vielen Restaurants über einer riesigen Schüssel mit nach Knoblauch duftenden Muscheln, als Marie über den Tisch langte und Francos Hand ergriff.
»Vielen Dank für diesen wunderschönen Tag! Ich … ich habe das Gefühl, in einem Wunderland zu sein, das ganz weit weg ist von New York … und von dem Rest der Welt. Es ist so märchenhaft …« Hilflos hob sie die Arme. Wie sollte sie ihr Glück in Worte fassen?
»Ich dachte, für dich gäbe es nichts Märchenhafteres als New York«, neckte er sie.
»Schon. Aber du musst doch zugeben, dass die Stadt auch ziemlich anstrengend ist.« Marie warf einer lauernden Möwe ein Stück Weißbrot zu.
Franco zuckte mit den Schultern. »Für mich ist höchstens meine Arbeit anstrengend, für private Vergnügungen bleibt mir leider nicht viel Zeit, mia cara .«
Marie stöhnte. »Musstest du das sagen? Ich habe auch so schon ein schlechtes Gewissen, weil ich ständig unterwegs bin. Vergnügungssüchtig – so würde meine Schwester Johanna mich nennen! Ich weiß, ich müsste auch einmaleinen Abend lang bei Ruth und Steven bleiben.« Ein Seufzer folgte. »Aber immer wenn ich mir das vorgenommen habe, kommen entweder Pandora oder Sherlain vorbei und schlagen etwas schrecklich Aufregendes vor! Und dann kann ich nicht Nein sagen. Es macht mir einfach Spaß, mit all den Künstlern zu reden und zu diskutieren! Dass ich, Marie Steinmann aus Lauscha, einmal im New Yorker Künstlerviertel sitzen und über den Expressionismus diskutieren würde, hätte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht ausgemalt! Und jetzt sitze ich hier mit dir …«
Auf einmal tat ihr das Herz weh vor lauter Liebe für diesen Mann.
»Musst du mich im selben Atemzug mit all den Verrückten nennen?«, brummte er. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du so viel Zeit in Greenwich Village verbringst. Die Sorge, dass dir etwas zustoßen könnte …«
»Was sollte mir ausgerechnet dort passieren?«, fragte sie lachend. Franco war das Künstlerviertel zu verwirrend, das wusste sie. Es gab nicht den einen Geruch, die eine Sorte Mensch wie in Little Italy oder in Chinatown. Dort erklang ein Mischmasch aus Englisch, Jiddisch, Russisch und Deutsch auf den Straßen, und alles war eng und heruntergekommen. Aber eben auch überschaubar. Marie bemühte sich um einen beruhigenden Ton.
»Es wird nicht umsonst ein Dorf genannt. Jeder kennt jeden, und gerade deshalb fühle ich mich wohler als in Ruths Apartmenthaus mit seiner verwaisten Eingangshalle und den
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