Die Amerikanerin
Duldermiene wie eine zweite Haut getragen.
Magnus … Marie stellte fest, dass die Erinnerung an ihn fast völlig verblasst war. Sie schüttelte sich wie ein Hund, der Wassertropfen aus seinem Fell loswerden möchte.
Irgendwann würde sie ihm schreiben und alles erklären müssen.
»Du glaubst gar nicht, was ein neuer Liebhaber alles ändern kann«, sagte Pandora trocken. »Aber erzähl, wie war’s denn?«
Marie schluckte. Sollte sie wirklich davon erzählen? Eigentlich wollte sie aus einer Art ehrfürchtigem Aberglauben nicht über ihre Liebe zu Franco reden, als könnte sie sich sonst in Luft auflösen. Doch dann platzte ihr Glück einfach aus ihr heraus.
»Es war wunderbar! Noch nie in meinem Leben habe ich so etwas gefühlt. Franco und ich … Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass endlich etwas zusammenwächst, was schon immer zusammengehört hat, verstehst du?«
»Und ob ich verstehe: Dich hat’s richtig erwischt!«, erwiderte Pandora mit wissendem Blick.
Nun, da ihr Zeichenblock wieder zum Leben erwacht war, sah Marie auf ihren Streifzügen durch die Stadt Menschenund Dinge mit anderen Augen: Ein kompliziert gelegtes Kopfsteinpflaster, Feuer speiende Gaukler auf einem Straßenfest, die Umrisse der Schiffe im Hafen im Morgennebel – auf einmal war sie von einer Fülle von Motiven umgeben, aus denen sie nur die schönsten herauspicken und zu Papier bringen musste.
»Habe ich dir nicht immer gesagt, dass dein Talent von selbst wieder erwachen wird?«, sagte Franco triumphierend. Er war fest davon überzeugt, dass allein seine Liebe Maries Kreativität wiederbelebt hatte. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sie eigentlich schon in der Nacht vor ihrer ersten Vereinigung wieder zu malen begonnen hatte: Die Vorstellung, dass Francos Liebe solch einen Einfluss auf sie hatte, gefiel ihr.
Wann immer sie ihre Ideen nach Lauscha schickte, kamen mit einem der nächsten Schiffe euphorische Rückmeldungen von Johanna und den anderen. Sie gratulierten sich zu ihrem Einfall, Marie zwecks neuer Inspirationen zu Ruth geschickt zu haben – nicht ahnend, dass nicht nur New York, sondern auch die Liebe für Maries Glückszustand verantwortlich war. Von dem Drama, das sich im Hause Miles abgespielt hatte, wussten sie allerdings nichts. Ruth hatte es vorgezogen, es in ihrem letzten Brief unerwähnt zu lassen.
Obwohl Marie sich schon ein halbes Dutzend Mal für ihren Fauxpas entschuldigt hatte, hatte Ruth ihr noch immer nicht verziehen. Der Ton zwischen den beiden Schwestern war kühl und distanziert, Stevens Vermittlungsversuche fruchteten nicht. Auch Wanda verkroch sich in ihr Schneckenhaus, wollte die meiste Zeit niemanden sehen.
Marie blieb nichts anderes übrig, als immer öfter allein loszuziehen.
Ich möchte durch die Straßen von New York gehen und dabei einfach nur eine Frau sein, die Spaß haben will! Eine x-beliebige Frau . Die Worte ihrer Reisebekanntschaft klangen lauterdenn je in ihren Ohren – ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie Gorgi immer noch nicht besucht hatte, allerdings auch. Doch sie fand dazu einfach keine Zeit, an jedem Tag gab es so viel anderes zu tun.
Wenn Franco nicht dabei war, führte ihr Weg sie meist nach Greenwich Village. Noch immer war sie wie besessen von dem Gedanken, alles in sich aufzusaugen, nur ja nichts zu verpassen. Und tatsächlich, allmählich begann sie Zusammenhänge zu verstehen, die ihr bisher entgangen waren: Die Naturalisten und die Symbolisten, die aus Europa angereisten Anhänger der »fin de siècle décadence«, Pandoras Ausdruckstanz, Sherlains expressionistische Dichtung und sogar die Jugendstilkünstler, die Ruths wertvolle Schmuckstücke hergestellt hatten – alles gehörte zusammen, alles fügte sich wie ein Puzzle zu einem großen, undefinierbaren Etwas und hatte doch keinen Namen. Hier, wo nicht Gottes Hand, sondern die des Menschen die Schöpfung beherrschte, gab es keinen einheitlichen Kunststil, hier war alles erlaubt, waren die Stilmittel unbegrenzt. Obwohl Marie nun schon fast neun Wochen in Amerika war, fand sie diese grenzenlose Vielfalt immer noch verwirrend, manchmal auch einschüchternd. Nach wie vor fragte sie sich, wo sie stand inmitten all der geistigen Experimente, der Proteste, des frisch entdeckten Unterbewusstseins und der Befreiung der Weiblichkeit. Sie musste zugeben, dass ihr Kunstverständnis für den hiesigen Geschmack mehr als eine Spur zu kommerziell war, und doch: Sie war ein Teil des Ganzen,
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