Die Amerikanerin
davon zeugte der prallvolle Skizzenblock, den sie jetzt immer bei sich trug. Und davon zeugte der Respekt, mit dem andere Künstler ihr begegneten, vor allem, nachdem sie sich als kunstsinnige Gesprächspartnerin erwiesen hatte.
»Du kommst aus Germany? Dann kennst du doch sicher meinen Freund Lyonel Feininger, der seit einiger Zeit auch in Deutschland lebt?«, hatte ziemlich zu Anfang ein Maler vonihr wissen wollen, als sie in großer Runde zusammensaßen. Marie war es so vorgekommen, als hätten die anderen am Tisch ihre Stimmen gedämpft, als hätte jeder mit einem Ohr auf ihre Antwort gelauscht. Wie es der Zufall wollte, kannte Marie den in Amerika in einer deutschen Familie geborenen Maler wenigstens dem Namen nach und wusste sogar – dank Alois Sawatzkys wöchentlichem Künstlerzirkel –, woran er arbeitete.
»Was Mont Sainte Victoire für Cézanne bedeutet, nämlich eine lebenslange Inspiration, ist für deinen Freund das Dörfchen Gelmeroda geworden«, wusste sie zu berichten. »Wie besessen malt er immer wieder die dortige Kirche, als ob er nach einem versteckten tiefen Sinn dahinter sucht. Und obwohl die kubistischen Elemente in seinen Bildern stets überwiegen, glaube ich, dass er im Innersten seines Herzens ein Romantiker geblieben ist.« So oder so ähnlich hatte es zumindest einer von Sawatzkys Gästen einmal behauptet.
Ein paar Augenbrauen waren daraufhin anerkennend nach oben gegangen. Probe bestanden! Die Glaskünstlerin aus Germany war aufgenommen in den erlauchten Kreis, der im nächsten Atemzug begann, über die subjektive Wahrnehmung zu diskutieren. »Man muss sehen wollen! «, war das selten so einheitliche Credo dazu gewesen.
Wann immer Marie mit Pandora und Sherlain unterwegs war, waren sie von skurrilen Typen umringt, die andächtig der rauchigen Stimme der Dichterin lauschten oder selbst etwas zum Besten gaben. Da war zum Beispiel der wilde Deutsche, der von sich behauptete, ein Graf zu sein, dessen verbeulte Kleidung jedoch aussah, als stamme sie aus einem Theaterfundus. Alle nannten ihn nur Klausi. Er war Kommunist, hatte feurige Augen und war stets mit einem Glas Rotwein anzutreffen, das er jedoch bereitwillig mit jedem teilte, der sich zu ihm an den Tisch setzte. Er konnte interessanterzählen, und obwohl er etwas muffig roch, hörte Marie ihm gern zu. Einmal beichtete er in seiner spöttischen Art, dass seine adlige Familie alles versucht habe, um ihn von seiner Trunksucht zu heilen. Sogar in die Schweiz auf einen Berg namens Monte Verità habe sie ihn geschickt, damit er im dortigen Salatorium dem Wein entsagte.
»Salat-was?«, wollte Marie wissen. Doch da war Klausi schon bei der Wette angelangt, bei der er ein Schiffsbillett nach Amerika gewonnen hatte. Und hier war er nun!
Später klärte Pandora, die ebenfalls mit am Tisch gesessen hatte, sie über die Bemerkung des Kommunisten auf. »In der Schweiz, oberhalb von Ascona, in den Bergen über dem Lago Maggiore gibt es eine Art Sanatorium, das von Künstlern und Freidenkern betrieben wird. Ich glaube, sie haben den Berg, auf dem die Gebäude stehen, Monte Verità genannt, weil sie hoffen, dort oben von Mutter Natur die große Erkenntnis zu erlangen. Scheinbar gibt es dort nur Grünzeug zu essen und kein Fleisch. Die Monte Veritàner sind nämlich allesamt Vegetarier.«
Marie kicherte. »Deshalb Salatorium! Dass Klausi dies sauer aufgestoßen ist, kann ich mir lebhaft vorstellen!«
Pandora nickte. »Es wird so einiges geredet über den Monte Verità. Scheinbar ist die Lebensweise der Künstler ziemlich gewöhnungsbedürftig. Andererseits gibt es auch Leute, die gut damit zurechtkommen, im Gegensatz zu Klausi!«
»Also, mir würde es gar nichts ausmachen, kein Fleisch zu essen. Früher, in meiner Kindheit, waren wir so arm, dass wir uns gar kein Fleisch leisten konnten«, sagte Marie.
»Ich glaube, das ist auch gar nicht so wichtig. Viel wesentlicher ist wohl … wie soll ich das ausdrücken? … die Stimmung, die dort herrscht. Ein Freund von mir, Lukas Grauberg, ist letztes Jahr auch dorthin gereist. Er litt unter seltsamen Wahnvorstellungen, hörte Stimmen und so …«
Pandora machte eine Handbewegung, als ob es etwas völlig Normales wäre, Stimmen zu hören.
»Zum Jahreswechsel hat Luke mir geschrieben und sich ganz euphorisch über den Monte Verità und seine Bewohner geäußert. Dass er begonnen habe, ein Buch über seine Visionen zu schreiben, dass er endlich auf Menschen treffe, die ihn verstünden –
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