Die Amerikanerin
schöne Zeit. Manchmal ging’s recht hoch her in der Werkstatt, die drei Brüder hatten ein ziemlich loses Mundwerk! Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns an ihren rauen Humor gewöhnt hatten.«
»Ach Marie, das hört sich alles an wie aus einer anderen Welt!« Wanda seufzte. »Ich könnte dir stundenlang zuhören, wenn du so erzählst. Trotzdem habe ich das Gefühl, das geht mich alles gar nicht wirklich etwas an. Es klingt so schrecklich fremd! Was haben diese Leute mit mir zu tun, frage ich mich.«
Der Zufall wollte es, dass sie ein paar Tage später – sie waren auf dem Weg zur Tanzstunde, die sie wieder aufgenommen hatten – an einem Plakat vorüberkamen, das eine Ausstellung von Murano-Glas in einer populären Galerie ankündigte. Es wurde zwar kein thüringisches, sondern venezianisches Glas ausgestellt, aber immerhin war es Glas! Und so schlug Marie vor, die Ausstellung zu besuchen. Da sie wusste, dass die Galerie auch von Ruth frequentiert wurde, wollte sie diese mitnehmen. Doch Wanda gelang es, ihre Tante von dem Gedanken abzubringen: Zurzeit wirkte alles, was mit Lauscha und mit Glas zu tun hatte, wie ein rotes Tuch auf ihre Mutter. Am liebsten wäre Wanda allein mit Marie in die Ausstellung gegangen, doch Franco begleitete sie.
Was Marie mit ihren detaillierten Ausführungen über Lauscha und die Menschen dort nicht gelungen war, schaffte der Anblick der feinen Glaswaren: Wanda war fasziniert. Arm in Arm ging sie mit Marie von Vitrine zu Vitrine, ihre Entzückensschreie übertrafen sich gegenseitig.
»Wenn ich mir vorstelle, dass mein Vater auch solche Kunstwerke schafft!« Wanda schüttelte den Kopf. »Wie bekommt man nur diese Spiralen ins Glas? Und hier, dieser irisierende Schimmer! Und schaut doch mal, Tausende vonBlümchen sind in dieser Vase verschmolzen. Wie um alles in der Welt kann man so etwas herstellen? Diese Gläser haben nicht das Geringste mit Gefäßen zu tun, aus denen Wasser und Wein ausgeschenkt werden! Kunstwerke sind das, voller Zauber und …« Ihr fehlten die richtigen Worte, um Marie ihre Gefühle zu erklären. »Dass ein so kalter Werkstoff eine solche Wärme ausstrahlen kann, das ist … Poesie!«
Marie lächelte. »Bist halt doch eines Glasmeisters Tochter!«, sagte sie, und Wanda durchfuhr ein warmer Schauer. Marie tat ihr Bestes, Wanda die unterschiedlichen Techniken zu erklären, doch etliches von dem, was sie sah, war ihr selbst fremd. »Ich muss zugeben, dass die Kunstfertigkeit der venezianischen Glasbläser die unsrige zumindest bei manchen Stücken übertrifft! Am liebsten würde ich mich gleich an den Bolg setzen und die eine oder andere Technik ausprobieren, wobei ich mir ganz und gar nicht sicher bin, ob sie mir gelingen würde!«
Franco, der dem Wortwechsel der Frauen bisher mit unbeteiligter Miene gefolgt war, bot an, die beiden Künstler ausfindig zu machen, damit Marie mehr über deren Techniken erfahren konnte.
Während er sich auf die Suche machte, nahm Marie Wanda ein wenig zur Seite.
»Versteh mich nicht falsch: Mit dem, was ich dir jetzt sage, möchte ich deine Euphorie nicht im Geringsten zerstören. Aber was die Werkstatt deines Vaters angeht …« – sie räusperte sich verlegen –, »ich möchte dir da keinen falschen Eindruck vermitteln.«
»Sprich dich aus, Tante Marie«, sagte Wanda, die nur mit halbem Ohr zuhörte. Sie hatte gerade ein Glas entdeckt, dessen Rosa süßer war als Zuckerguss und so lieblich, dass …
»Die Heimer’sche Glasbläserei war zwar wirklich einmal für ihre Qualitätsware und deren Vielfalt bekannt, doch seit ein paar Jahren ist’s ziemlich schlecht um sie bestellt. Fragmich nicht nach den Gründen!« Abwehrend hob Marie beide Arme. »Einer davon ist sicherlich, dass Wilhelm sich immer geweigert hat, in die Christbaumschmuckproduktion einzusteigen.«
»Aber außer Christbaumschmuck gibt es noch so viele andere Glaswaren, oder? Wenn … wenn Thomas Heimer wirklich ein guter Glasbläser ist, dann bekommt er doch sicher genug andere Aufträge«, antwortete Wanda. Sie brachte es nicht fertig, »mein Vater« zu sagen.
Marie lachte. »So einfach ist das nicht. Weißt du, die Aufträge kommen einem heutzutage nicht mehr ins Haus geflattert. Dafür muss man schon einiges tun. Ein Glasbläser muss in diesen Zeiten auch eine kaufmännische Ader haben, sonst ist er verloren.«
»Und wer kümmert sich bei euch um Aufträge?« Wanda runzelte die Stirn.
»Johanna natürlich! Sie macht alles Geschäftliche,
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