Die Amerikanerin
gerade so, als ob wir ihm das verwehrt hätten!«, erzählte Pandora pikiert. »Wie dem auch sei: Lukas geht es gut, und wenn man ihm glauben will, hat das allein mit diesem magischen Ort zu tun. Er schrieb, dass die Sonne und die Bergluft viele der Leiden heilen, derentwegen die Menschen den Monte aufsuchen. Am Ende teilte er mir noch gnädigst mit, dass er nicht mehr zurückkommen werde und ich seine Sachen unter unseren Freunden aufteilen solle. Er sei nämlich dabei, sich zusammen mit einer Frau namens Susanna in der Künstlerkommune eine Hütte aus Holz zu bauen, und er wolle sein neues Leben nicht mit Ballast aus dem alten beschweren. Eine Holzhütte, man stelle sich vor!« Pandora hangelte nach der Weinflasche, die gerade die Runde machte, und schenkte sich nach. Als sie auch Maries Glas füllen wollte, winkte diese nachdenklich ab.
Ein Ort, an dem immer die Sonne schien und an dem jeder tun und lassen konnte, was er wollte? Mit Aussicht auf den Lago Maggiore? Das hörte sich in ihren Ohren ziemlich verführerisch an. Was die Künstler mit einem Sanatorium zu tun hätten, wollte sie dann wissen. Pandora erklärte ihr, dass dies nur Mittel zum Zweck sei.
»Nun ja, von irgendetwas müssen die Künstler schließlich leben! Und so helfen sie kranken Menschen, statt sich kommerziellen Zwängen zu unterwerfen – wozu unsereins sich manchmal gezwungen sieht«, sagte sie in Anspielung auf ihre Vorführung in Ruths Haus.
»Seit neuestem ist auf dem Monte Verità auch eine moderne Tanzschule angesiedelt – ich hätte größte Lust, einmal dorthin zu fahren!«
»Ein magischer Ort – wie schön das klingt …« Marie lernte durch diese Episode einmal mehr, dass die Welt immer kleiner wurde. Dass alles enger zusammenrutschte. Durch eine Wette in New York zu landen war anscheinend keine große Sache mehr. Ebenso wenig, wie eine Reise in die Schweiz zu machen, um eine Tanzschule zu besuchen.
Als sie später Franco auf den Monte Verità ansprach, lachte er auf.
»Ob ich von den Nackten und Langhaarigen gehört habe? Wer nicht? Aber ganz so schlimme Kostverächter, wie es überall heißt, können die Monte Veritàner gar nicht sein. Nach allem, was man sich in Winzerkreisen erzählt, haben die Wirte in Ascona nämlich noch nie so viel Rebensaft verkauft wie an diese exzentrische Kundschaft! Wirte aus anderen Orten gucken schon ganz neidisch.« Auf Maries verständnislosen Blick hin erklärte er: »Na, wenn keiner hinschaut, gehen die Monte Veritàner hinunter ins Dorf, um zu schlemmen und sich zu betrinken! Aber wen wundert’s? Nach ein paar Gläsern Rotwein im Blut hat schon so mancher geglaubt, den Stein – oder von mir aus auch den Berg – der Weisheit gefunden zu haben.«
17
Trotz aller Verliebtheit und Kunstsinnigkeit hielt Marie Wort und erzählte Wanda von Lauscha und von ihrem richtigen Vater. Manchmal waren es nur ein paar Minuten, die sie auf Wandas Bettkante verbrachte, bevor sie sich zu einem Treffen mit Franco aufmachte – entsprechend kurz waren dann ihre Geschichten und entsprechend lang war Wandas Gesicht. Je weiter ihre Tante ausholte, je ausführlicher ihre Schilderungen waren, desto lieber hörte sie zu. »Hast du nicht gesagt, es ist an der Zeit, dass ich alles erfahre?«, versuchte sie Mariefestzunageln, wann immer die sich mit zeitsparenden Kurzversionen durchmogeln wollte.
Und so erfuhr Wanda, dass ihr Vater ein begnadeter Glasbläser war und dass er noch immer gern einen über den Durst trank, aber längst nicht mehr so ein wilder Kerl war wie in seiner Jugend. Die meiste Zeit bekam man ihn im Wirtshaus gar nicht zu sehen – mittlerweile lastete der Hauptteil der Arbeit auf seinen Schultern. Warum das so war? Wenn Marie einmal anfing zu erzählen, dann tat sie dies schonungslos ehrlich. Wanda sollte endlich die ganze Wahrheit erfahren.
Da war zum Beispiel der jüngste Bruder ihres Vaters, Michel, der nach einer Sauftour mit einem Fuß zwischen den Gleisen der Bahnlinie Sonneberg–Lauscha stecken geblieben war und ihn nicht mehr schnell genug vor dem herannahenden Zug herausziehen konnte. Der Teufel wollte es, dass er sein rechtes Bein verlor, jenes, das der Glasbläser für die Steuerung der Luftzufuhr benötigt. Von jenem Tag an hatte es im Hause Heimer einen Glasbläser weniger gegeben.
»Eine Zeitlang – ich glaube, ich war gerade achtzehn Jahre alt – hat Michel mir schöne Augen gemacht, und wir haben uns ein paar Mal getroffen. Aber ich habe mich nur dafür
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