Die amerikanische Nacht
Leica und stand hüfttief im Sumpf, um kämpfende Libellen aufs Bild zu bekommen. Er hatte gerade eine sehr intensive Affäre mit einer Frau namens Rachel, die zehn Jahre älter war als er. Sie war auch da. Ich erinnere mich, dass jemand sagte, sie habe in einem von Cordovas Filmen mitgespielt.«
»In welchem?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.« Sie lächelte wehmütig. »Cordovas Bühnenbildner hatte für die Familie eine Flotte von knallbunten Booten gebaut – alle sagten
Piratenschiffe
dazu –, um auf dem See zu segeln. Sie hatten ein Hunderudel, Wolfsmischlinge. Einer der Gäste erzählte, wie Cordova sie mitten in der Nacht aus dem Zwinger eines Bauern befreit hatte, der sie für Hundekämpfe gezüchtet hatte. Solche Geschichten erzählten sie. Cordovas Mutter war da. Sie sprach kein Englisch und hatte Krebs im Endstadium. Alle waren so nett zu ihr, sie setzten sie in einen Liegestuhl, damit sie unter einem der Schirme sitzen und Limoncello trinken konnte. Ich habe mir damals geschworen, wenn ich je das Glück haben sollte, eine Familie zu haben, sollte sie genauso sein. Es war eine Realität gewordene Phantasie. Ich habe den Großteil des Nachmittags mit einem Philosophen aus Frankreich und mit Astrid verbracht, die allen beibrachte, in Öl zu malen. Wir hatten unsere Staffeleien am See aufgebaut, standen im Wind und malten. Als Billy und ich fuhren, ging die Sonne schon unter, und ich verspürte eine heftige Trauer. Als hätte ich den Nachmittag in einem Inselparadies verbracht und würde jetzt aufs Meer hinausgezogen und nie wieder dorthin zurückkehren können.«
»Klingt wie Peter Pans Neverland«, sagte ich, als sie nicht weitersprach.
Sie sah mich verwirrt an, sagte aber nichts. Sofort bereute ich, gesprochen zu haben. Ich hatte Angst, den Bann gebrochen zu haben, der sie von diesem Tag hatte erzählen lassen. Die Worte waren erst langsam aus ihr herausgesickert, aber dann, zu meiner großen Überraschung, herausgeschossen wie eine Fontäne, die nach Jahren der Dürre endlich wieder Wasser führte. Jetzt schien sie zu bereuen, überhaupt etwas gesagt zu haben.
»In welchem Jahr war das?«, fragte ich ganz locker.
»Das Jahr, in dem ›Isolate‹ produziert wurde. Frühjahr 1993 , glaube ich.«
Ashley war am 30 . Dezember 1986 geboren.
In diesem Sommer musste sie sechs Jahre alt gewesen sein.
»Haben Sie Ashley getroffen?«, fragte ich.
Peg nickte, sie zögerte, weiterzureden. Doch dann schien es, als könnte sie eine solche Frage nicht unbeantwortet stehenlassen.
»Sie war schön. Kurzes, dunkles Haar, fast schwarz. Wie eine Elfe. Blasse graue Augen.« Sie lächelte und wirkte mit einem Mal lebendig. »Ich war siebzehn. Mit Kindern konnte ich
überhaupt nichts
anfangen. Aber wie aus dem Nichts nahm Ashley mich an die Hand und brachte mich zu einem einsamen Teil des Sees, wo eine Weide stand und hohes Gras. Das Wasser war smaragdgrün. Sie fragte, ob ich die Trolle sehen konnte. Ich erinnere mich noch an die Namen. Elfriede und Vanderlye. Als sie schließlich meine Hand wieder losließ und über das Feld einem Schmetterling hinterherjagte – der war riesig und leuchtend rot und orange, als hätten sie dort ihre eigenen Insekten gehabt –, glaubte ich an Trolle. Das tue ich immer noch.«
Sie verstummte, anscheinend schämte sie sich für ihre Begeisterung. Mir fiel auf, dass Sam Peg anstarrte und ihr aufmerksam zuhörte.
Im Park war es jetzt dunkel, die Fremden, die am Zaun standen, waren gesichtslos. Die riesigen Ulmen mit ihren ausgestreckten Ästen verschwanden langsam in der Dunkelheit. Das Rudel Hunde ließ keine Erschöpfung erkennen, ein verschwommener, braunweißer Schwall hechelnder Hundezungen und fliegenden Schotters.
»Diesen Tag habe ich mir aufbewahrt«, fuhr Peg mit dünner Stimme fort, »wie eine alte Postkarte. Etwas, das man in sein Album klebt, um sich an das perfekte Glück zu erinnern – dass es existiert, einen Augenblick lang, wie ein Blitz am Himmel. Als ich las, was mit Ashley passiert ist, konnte ich es nicht glauben. Ich kannte sie ja gar nicht, aber … es kam mir so plötzlich vor. Und falsch. Wenn man so eine Familie hat und diese Welt trotzdem nicht ertragen kann, welche Hoffnung bleibt dann für alle anderen?«
Sie lächelte traurig und wandte ihren Blick ab.
»Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?« Meine bohrende Frage ließ mich innerlich zusammenzucken. Glücklicherweise zuckte sie bloß mit den Schultern.
»Meine Rolle war ganz klein. Ich
Weitere Kostenlose Bücher