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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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blutunterlaufenen Augen funkelten grün. »Die Ärzte sagen, du bist hier reingerannt und hast gebrüllt, dass sie jemand verletzt hat? Ein Priester? Bist du verrückt geworden?«
    Darauf hatte ich keine Antwort.
    »Das war’s mit den Besuchen.«
    »Das verstehe ich.«
    »Nein. Ich gehe zum Richter und mache es offiziell. Du wirst sie nicht mehr sehen. Nie mehr.«
    »Cynthia …«
    »Bleib. Weg.«
    Sie rief das mit einer solchen Wut, dass eine vorbeigehende Krankenschwester sich umdrehte und mich finster ansah.
    Cynthia strich sich ihre Bluse glatt und ging zurück zu Sams Kabine, doch dann drehte sie sich noch einmal um.
    »Das hätte ich fast vergessen.« Sie fummelte in der Tasche ihres Blazers herum. »Die Krankenschwester hat das hier in Sams Manteltasche gefunden.«
    Sie hielt mir eine kleine Figur hin. Ich nahm sie in die Hand.
    Es war eine schwarze, aus Holz geschnitzte Schlange. Nach einem Moment der Verwirrung wurde mir klar, dass ich sie schon einmal gesehen hatte; genau diese Figur hatte dem tauben Jungen in der 83  Henry Street gehört.
    Er hatte sie im Treppenhaus fallen gelassen. Ich hatte sie gefunden und ihm zurückgegeben.
    Und jetzt hatte Sam sie.
    »Das hältst du also für ein geeignetes Spielzeug für deine fünfjährige Tochter? Ich kann’s kaum erwarten, das dem Richter zu zeigen.«
    Die Geräusche im Krankenhaus, die Durchsagen, das Klicken und Klingeln der Telefone, das Quietschen der Transportliegen, die Schritte – all das kam mir plötzlich ohrenbetäubend laut vor, und dann auf einmal war alles still.
    Wieder konnte ich spüren, wie diese schwarze Flutwelle sich zurückzog und über mir auftürmte. Sie schwoll noch immer an, wurde immer gewaltiger.
    Bruce hatte den Vorhang zur Seite geschoben, so dass ich Sam sehen konnte. Sie sah zur Ärztin auf, ihre winzige bandagierte Hand lag wie ein verlorener Handschuh auf der Bettdecke.
    Ich drehte mich um und rannte los.
    »Komm sofort zurück!«,
brüllte Cynthia mir nach. »Das will ich behalten!«
    Ich rannte an einem alten Mann vorbei, der auf einer Trage lag und die Decke anstarrte, und an einem Arzt im weißen Kittel. Ich stieß die Türen zum Wartezimmer auf. Hopper und Nora saßen auf den Stühlen unter dem Fernseher und blickten zu mir auf.
    Ich blieb nicht stehen.
    »Scott?«, rief Nora.
    Ich hetzte durch die Drehtür und hinaus, zurück in die Nacht.

93
    Ich erreichte
Enchantments
fünf Minuten nach Ladenschluss.
    Die Tür war abgeschlossen, aber innen stöberten noch ein paar Kunden.
    Ich hämmerte gegen die Scheibe. Eine Frau kam hinter der Kasse hervor.
    »Wir haben geschlossen!«
    »Ich muss Cleopatra sprechen!
Es ist ein Notfall!
«
    Sie trat kopfschüttelnd zur Tür und schloss auf.
    »Mann, tut mir leid, aber …«
    Ich drängte mich an ihr vorbei und rannte vor den Augen der verdutzten Kunden zur Theke im hinteren Teil des Ladens.
    »Ist sie da?«
    Der blonde Punk auf dem Hocker starrte mich nur erschrocken an. Ich raste an ihm vorbei und riss die schwarzen Samtvorhänge zur Seite.
    »Hey! Sie dürfen da nicht rein!«
    Ich betrat den Raum und da war Cleo, sie saß an dem runden Tisch und unterhielt sich mit einem jungen Pärchen.
    »Das ist ein Notfall. Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Er ist einfach durchgelaufen«, sagte der blonde Typ, der hinter mir hergekommen war.
    Cleo nahm mein Eindringen ganz gelassen, sie wirkte nicht einmal überrascht.
    »Ist schon gut«, sagte sie. »Wir sind eigentlich fertig.«
    Die beiden sprangen auf, schnappten sich den Plastikbeutel mit Kräutern vom Tisch und folgten – wobei sie einen weiten Bogen um mich machten – dem blonden Typen durch die Samtvorhänge hinaus. Ich war allein mit Cleo.
    Ich holte die Figur aus meiner Manteltasche. Sie fühlte sich seltsam schwer an, schwerer als zuvor.
    »Meine Tochter hatte das hier in ihrer Tasche. Was zur Hölle ist das?«
    Cleo stand auf und kam auf mich zu. Sie trug einen weißen bestickten Bauernkittel, Jeans, ihre roten Doc Martens, und ihre Finger und Handgelenke waren mit denselben Silberreifen und Ringen beladen wie zuletzt. Sie musterte die Schlange, ohne ihr zu nahe zu kommen. Dann drehte sie sich um, ging zu den chaotischen Regalen an der hinteren Wand und kam mit einem Paar Latexhandschuhen zurück.
    Sie zog sie an, nahm mir die Figur behutsam ab – als wäre es ein gefährlicher Sprengstoff – und ging damit zum Tisch hinüber.
    »Das haben Sie
gerade
gefunden?«
    »Ja.« Ich zog einen Klappstuhl heran und setzte mich

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