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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Meine Gedanken entglitten mir immer wieder, wie winzige, Luft verlierende Bojen, an denen ich mich festzuklammern versuchte, um nicht unterzugehen. Ich stellte mir vor, wie ich auf meinem Bett in der Perry Street saß und zur Decke hinaufstarrte. Ich fragte mich, ob wir auf dem Weg nach
Weller’s Landing
in einen Autounfall geraten waren und ob es sich so anfühlte, bewusstlos zu sein, von der Welt losgelöst, zwischen Leben und Tod zu schweben, der Erde und dem Unbekannten.
    Vielleicht war ich immer noch in diesem widerlichen Swimmingpool.
    Vielleicht war ich nie hinausgeklettert.
    Doch nach einer Weile merkte ich, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Mein Blick ruhte auf einer Zeitung, die aufgeschlagen vor mir auf dem Couchtisch lag.
     
    The Doverville Sentinel
    POLIZEI GEHT DEM TOD MEHRERER JUNGEN NACH
    *
    Ich sah mich mit halb zusammengekniffenen Augen um. Ich befand mich in einem einfach eingerichteten Wohnzimmer. Auf dem Holzfußboden lag ein weißer Flokatiteppich, darauf standen moderne Stühle. Vor den Fenstern hingen Vorhänge, außerdem sah ich einen gemauerten Kamin.
    Ich war schon einmal hier gewesen.
    Genau in diesem Zimmer.
    An der gegenüberliegenden Wand hingen drei gerahmte Bilder neben einer winzigen Kochnische. Eine Stehleuchte mit einem cremefarbenen Lampenschirm ragte über das Sofa. Ich streckte den Arm aus und legte den Schalter um.
    Sofort erleuchtete ein blasses Licht den Raum.
    Ein Schaukelstuhl stand neben der Eingangstür, über der Lehne hing ein Herrenmantel im Fischgrätmuster. Rechts von mir stand auf einem Beistelltisch die Bronzestatue einer Frau, die eine Kristallkugel auf dem Kopf balancierte. Emily greift, heulend vor Angst, nach dieser Statue, um sie als Waffe einzusetzen. Dann jedoch flüchtet sie über den Flur und versteckt sich in einem Schrank im Schlafzimmer. Auf
genau dem
Sofa, auf dem ich jetzt lag, sitzt Emily in der Eröffnungsszene und liest in der Zeitung über den neuesten Kindermord, als Brad hereinkommt und seinen Mantel und Aktenkoffer auf den Stuhl neben der Tür wirft.
    Ich sah nach oben. Es gab keine Decke, nur in ungefähr zwölf Metern Höhe ein Baugerüst. Da oben waren Scheinwerfer angebracht worden, von denen einige auf mich gerichtet waren.
    Es war ein Filmset.
    Ich befand mich in Brad und Emily Jacksons Wohnzimmer aus »Daumenschraube« – »einer verhängnisvollen Geschichte von Misstrauen, Paranoia, Ehe und der Unergründlichkeit der menschlichen Psyche«, so Beckman.
    Brad, ein gutaussehender Professor für Mediävistik an einem kleinen geisteswissenschaftlichen College im ländlichen Vermont, ist frisch mit Emily verheiratet, einer jungen Frau mit einer allzu lebhaften Phantasie. Sie beschäftigt sich wie besessen mit einer Reihe ungeklärter Mordfälle an achtjährigen Jungen aus der Gegend und verdächtigt ihren Mann, der Mörder zu sein. »Daumenschraube« endet ohne eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Brad nun schuldig ist oder nicht.
Ich
hatte das Gefühl, dass er es war, doch im Internet und mit Sicherheit auch auf den Blackboards wimmelte es nur so von Argumenten für beide Varianten. Beckman widmete dem Film ein ganzes Kapitel seines Buches
Die Amerikanische Maske
: »Kapitel  11 : Der Aktenkoffer«. Er schrieb, dass sich die Wahrheit, die Emily genauso wie die Zuschauer erlösen würde, in Brads abgenutztem Samsonite-Lederkoffer verbarg. Brad achtet penibel darauf, ihn gemeinsam mit den Daumenschrauben – den mittelalterlichen Folterwerkzeugen – jeden Abend, wenn er von seiner Lehrtätigkeit am College zurückkommt, in seinem Safe einzuschließen.
    Brads Aktenkoffer beherrscht den Film so sehr – Emily ist irgendwann davon besessen, will ihn unbedingt stehlen, aufbrechen und herausfinden, was ihr Mann darin versteckt hält –, dass er eigentlich eine der Hauptfiguren ist. Der Koffer ist in mehr Einstellungen zu sehen als Brad selbst. Weder Emily noch den Zuschauern ist es vergönnt, hineinzusehen, ein erzählerisches Mittel, das Tarantino fünfzehn Jahre später in »Pulp Fiction« einsetzte.
    Während einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Emily und Brad im dritten Teil des Films – Emily ist überzeugt, einen Psychopathen abwehren zu müssen; Brad ist überzeugt, dass seine Frau verrückt geworden ist – rutscht der Koffer versehentlich in den Spalt zwischen Bett und Wand. Dort bleibt er unbeachtet liegen, in diesem winzigen Häuschen in Vermont, das, nachdem Emily – eine Waise – in

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