Die amerikanische Nacht
musst da noch tiefer gehen.
Ich erstarrte, als ich sah, was sich darunter befand.
In der Ecke des Koffers lag sorgsam gefaltet das karierte Hemd eines kleinen Jungen.
Ich nahm es in die Hand und spürte den Ekel in mir hochkommen, als sich die festen Ärmel vor mir ausklappten, als hätten sie ihren eigenen zerbrechlichen Willen.
Die Vorderseite des Hemdes war steif und mit dunkelbraunen Flecken bedeckt.
Es sah furchtbar real aus, das echte Souvenir eines echten Mordes. Der Stoff selbst wirkte mitgenommen, als seien die Spuren unvorstellbarer Gewalt hineingezogen und dann getrocknet.
Das war verdammt viel Aufwand für eine Requisite, die im Film gar nicht zu sehen war.
Ich erinnerte mich an die böse zugerichteten weißen Anzüge, die ich in Marlowes Kleiderkammer gefunden hatte.
Ich betrat die tiefsten, schmerzhaftesten Bereiche von mir,
hatte sie gesagt.
Bereiche, die ich mich nicht zu öffnen getraut hatte, weil ich bezweifelte, sie je wieder verschließen zu können.
Vielleicht waren Cordovas Filme real. Die Schrecken auf der Leinwand echte Schrecken, die Morde echte Morde.
War das möglich?
Es würde Cordovas Popularität erklären – nichts bewegte die Menschen so sehr, brachte sie so sehr zum Gaffen wie die Wahrheit. Es erklärte außerdem, wieso niemand, der mit Cordova arbeitete, je über diese Erfahrung sprach. Vielleicht waren sie mitschuldig – und wenn sie von den Schrecken erzählen sollten, die sich beim Dreh ereignet hatten, würden sie sich selbst belasten. Es war denkbar, dass Cordova nach Abschluss der Dreharbeiten gegen alle seine Schauspieler etwas in der Hand hatte, etwas, das ihr Schweigen sicherstellte. Ich erinnerte mich an eine Bemerkung Olivia Endicotts, die mir damals ziemlich seltsam vorgekommen war – im Verhör durch Cordova, als sie wegen einer möglichen Rolle in »Daumenschraube« bei ihm war:
Mir kam langsam der Verdacht, dass diese Fragen nicht in erster Linie dazu dienten, mich kennenzulernen oder herauszufinden, ob ich die Richtige für die Rolle war, sondern zu erfahren, wie isoliert ich war, und wer es bemerken würde, wenn ich verschwand oder mich auf irgendeine Weise veränderte.
Ohne Zweifel suchte Cordova nach Menschen, die er manipulieren konnte. Er war besessen davon, das
Echte
einzufangen; er hatte seinen Sohn Theo gezwungen, in »Warte hier auf mich« mitzuspielen, anstatt ihn ins Krankenhaus zu schicken, um seine abgetrennten Finger wieder annähen zu lassen. Außerdem wusste ich von den Blackboards – und von Peg Martin –, dass Cordova eine Filmcrew aus illegalen Einwanderern beschäftigte, ein stillschweigender Trupp von Männern und Frauen, die niemals über das sprechen würden, was sie gesehen hatten.
Bei dem Gedanken spürte ich plötzlich eine Art freudiger Erregung. Wie gut das zu allem passte, was ich über den Mann erfahren hatte, als ich den letzten Schritten seiner Tochter gefolgt war.
Cordova suchte sich seine Schauspieler offensichtlich sehr sorgfältig aus, sie kamen aus den unterschiedlichsten Verhältnissen, manche verfügten über keinerlei Schauspielerfahrung. Er brachte sie hierher, um in dieser abgelegenen Welt zu leben, schloss sie ein und erlaubte keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Wieso sollte man sich darauf einlassen, sein Leben, mit Kopf und Körper, einem
einzigen Mann
auszuliefern?
Diese Frage hatte Hopper Marlowe gestellt. Aber war das überhaupt nötig? Millionen von Menschen gingen betäubt durch ihr Leben, sehnten sich danach, etwas zu verspüren, sich lebendig zu fühlen. Von Cordova für einen Film ausgewählt zu werden, ermöglichte genau das, nicht nur Ruhm und Reichtum, sondern sein altbekanntes Selbst wie abgelegte Kleider hinter sich zu lassen.
Was genau mussten sie bei Cordova erdulden? Alles, was seine Figuren taten? Dann waren seine
Night Films
Dokumentarfilme, echter Horror, keine Fiktion.
Er war sogar noch verdorbener, als ich gedacht hatte. Ein Verrückter.
Der Teufel persönlich.
Vielleicht war er das nicht immer gewesen, aber er war hier dazu geworden. Und wenn seine Filme echt waren, wie leicht würde es diesem Mann fallen, Kindern weh zu tun, um Ashley zu retten?
Ich durchstöberte die restlichen Papiere in dem Koffer. Es waren nur noch Vorlesungen und Notizen und ein maschinengeschriebener Brief von Simon & Schuster vom 13 . Januar 1978 .
Lieber Mr Jackson, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Roman,
Mord im Barbakan
, nicht in unser gegenwärtiges Verlagsprogramm passt.
Ich erinnerte
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