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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Nora in Sicherheit und Hopper bei ihr. Ich würde sie unten beim Kanu treffen, und dann würden wir uns einen neuen Plan ausdenken.
    Die Hunde – und der Mann mit der Taschenlampe – schienen recht weit weg zu sein, denn die Nacht war jetzt wieder still.
    Ich verließ die Einhegung und fand mich auf einem weiteren Weg wieder. Dies musste der westliche Rand des Gartens sein. Rechts von mir ragte hinter einer verwilderten Wiese weit und schwarz ein Wald dichter Kiefern empor, links von mir saß hoch auf dem Hügel und hinter verknoteten Büschen das Haus.
    Es war noch immer dunkel.
    Ich lief durch das Gras auf den Wald zu und folgte dem Waldrand um den Hügel herum in Richtung Graves Pond. Meine nasse Kleidung ließ mich zittern, doch ich ignorierte es und versuchte zu rennen. Meine Beine reagierten nicht. Ich stolperte über Äste und Baumstämme und bog in östliche Richtung ab, als ich links von mir eine Lichtung sehen konnte – und zwischen den Bäumen das Schimmern von Wasser. Minuten später erreichte ich die Flussmündung, durch die wir auf den See gekommen waren. Ich taumelte hindurch, bis zu den Oberschenkeln im Wasser und Schlamm, und schleppte mich so schnell ich konnte ans andere Ufer.
    Ich erreichte die Westseite, ging langsam das Ufer ab und fand zu meiner Erleichterung – und zu meinem Erstaunen – den kleinen Zweig, den Nora in die Erde gesteckt hatte.
    »Nora«, flüsterte ich und ging geradewegs in den Wald hinein.
    Als ich den umgefallenen Baumstamm fand, blieb ich wie angewurzelt stehen.
    Die Äste und Blätter waren zur Seite geräumt worden.
    Das Kanu war weg.
    *
    Ich sah mich um, die Stämme der kargen Bäume schienen mich in ein unendliches Gefängnis zu sperren.
    Ich ging zurück zum Ufer des Sees und starrte auf das mondbeschienene Wasser hinaus.
    Dort war niemand.
    Ich ging alle Möglichkeiten durch.
Hopper und Nora waren erwischt worden.
Oder sie waren geflohen und hatten mich im Stich gelassen. Oder sie waren verfolgt worden, hatten fliehen können und warteten, bis die Luft rein war, um zurückzukehren. Oder jemand anderes hatte das Boot gefunden und konfisziert, jemand, der jetzt auf mich wartete, mich
beobachtete
.
    Ich lauschte angestrengt auf Schritte, aber ich hörte nichts.
    Hier konnte ich nicht bleiben. Und ich konnte auch keine Taschenlampe benutzen, weil ich befürchtete, dass mich jemand von weitem sehen konnte. Ich lief entlang des Sees los, ungefähr in die Richtung, in der wir drei zuvor aufgebrochen waren.
    Ein Hund bellte.
    Es klang meilenweit entfernt. Trotzdem beschleunigte ich und ging auf direktem Wege den Hügel hinauf. Irgendwo in meinem Bauch flackerte das letzte bisschen Wärme auf, als würde es jeden Moment erlöschen.
    Ich blieb stehen und blickte nach rechts. Hinter den Bäumen stand eine Art Gebäude. Es leuchtete schwach bläulich in der Dunkelheit. Ich ging darauf zu.
    Es war ein riesiges Lagerhaus mit flachem Dach und ohne erkennbare Fenster. Ich ging um die erste Ecke herum und stieß auf zwei Stahltüren, durch deren Griffe eine rostige Kette mit einem Vorhängeschloss gezogen war. Schnell suchte ich mir am Boden einen geeigneten Stein, ging damit zur Tür zurück und schlug ein paarmal auf das Schloss ein, bis es sich öffnen ließ. Inzwischen war es mir völlig egal, wenn mich die ganze Welt hörte.
    Ich zog die Kette ab, öffnete die Tür und taumelte hinein.
    Das Mondlicht, das durch den Eingang ins Haus fiel, beleuchte eine einfache Balkenwand, einen Betonfußboden und weiter entfernt die Rückseite eines braunen Sofas, über dessen Lehne eine sorgfältig gefaltete Decke hing – all das verschwand wieder in absoluter Dunkelheit, als die Tür hinter mir mit einem dröhnenden Schlag ins Schloss fiel.
    Ich nahm meinen Rucksack ab, schnürte meine Stiefel auf und zog mich bis auf die Unterhose aus. Dann stolperte ich fast über eine unsichtbare Stufe und brach auf dem Sofa zusammen. Ich tastete nach der Decke und zog sie über mich. So kauerte ich da, zitterte unkontrollierbar und konzentrierte meine ganze Willenskraft darauf aufzutauen. Nach einem Augenblick der Benommenheit wurde mir klar, dass ich nur noch schlafen wollte, offenbar Folge der Unterkühlung. Ich schob den Gedanken an Schlaf beiseite.
    Wenn du einschläfst, bist du tot.
Das ist die Droge, die einem der Körper verabreicht, bevor er den Geist aufgibt.
    Minuten vergingen. Wie viel Zeit genau, wusste ich nicht, weil ich meinen Arm nicht bewegen konnte, um auf die Uhr zu schauen.

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