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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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ein Bruder bei der Navy, hasst Katzen, Diabetes, ist nicht gern allein, sexuell unerfahren‹. Auf einem anderen Bild stand so was wie, ›In Texas aufgewachsen, nach Autounfall als Fünfjährige ein Jahr lang Korsett, auf quälende Art schüchtern‹.«
    »Hast du irgendetwas von dort eingesteckt?«, fragte ich.
    Die Frage schien ihn zu irritieren. »Wieso?«
    »Als Beweis?«
    »Nein. Ich habe alles zurückgelegt und bin verdammt nochmal von da abgehauen.«
    »Und dann hat Hopper eine Folterkammer entdeckt«, platzte Nora heraus.
    »Das war keine Folterkammer«, widersprach er verärgert. Er sah mich an. »In einem anderen Kellerraum standen ein paar Holztragen, Metallbetten und altes Zeug – bei der Hälfte der Sachen hatte ich keine Ahnung, was es war. Ich bin wieder raus und hoch in den zweiten Stock geschlichen. Da habe ich, glaube ich, Ashleys Zimmer gefunden, und als ich mich umsah, habe ich eine Lampe umgeworfen. Das muss jemand gehört haben, denn ich merkte, wie jemand die Treppe heraufkam. Ich versteckte mich in einem Schrank, während diese Person – es hörte sich nach einer Frau an – das Zimmer absuchte. Sie stellte die Lampe wieder auf und ging. Bloß hat sie mich dabei eingeschlossen. Ich konnte die Tür von innen nicht öffnen. Ich wollte den Türknauf abschrauben, aber dann hörte ich draußen vor der Tür einen der Hunde. Er musste gemerkt haben, dass ich in dem Raum war. Aber er bellte nicht. In dem Zimmer gab es riesige Erkerfenster, durch die man den Hügel und Graves Pond sehen konnte, aber als ich aus dem Fenster zu klettern versuchte, ging es steil nach unten. Ich bin die ganze Nacht in dem Zimmer geblieben, ganz leise, und habe darauf gewartet, dass der Hund verschwindet. Gegen fünf Uhr morgens pfiff jemand und der Hund lief nach unten. Ich schraubte den Türknauf ab und schaffte es, das Haus zu verlassen, ohne jemandem zu begegnen. Dann bin ich direkt zum Kanu, aber das war natürlich weg. Also bin ich einfach dem Bach gefolgt, den wir gekommen sind. Aber ich habe mich verlaufen. Ich bin tief in den Sumpf hineingeraten und stand irgendwann bis zur Brust im Schlamm. Dann bin ich einer Gruppe von Campern begegnet, die mich ansahen, als wäre ich das Monster von Loch Ness. Sie sagten mir, dass ich mich in einem Abschnitt namens
Hitchens Pond Primitive Area
befand. Das ist ganz im Osten vom Lows Lake. Es war ungefähr sechs Uhr morgens, als ich wieder beim Jeep war.«
    »Gab es irgendein Anzeichen dafür, dass einer der Cordovas noch in dem Haus wohnt?«, fragte ich.
    »Nein. Die Schlafzimmer der Familie waren im obersten Stockwerk. Da hat die ganze Nacht niemand geschlafen. Ich glaube, die anderen Leute mit den Hunden waren so was wie Hauswarte. Aber ich habe keinen von ihnen von nahem gesehen.«
    »Du warst in keinem anderen Raum im Keller?«
    »Nein. Die waren alle abgeschlossen.«
    »Und oben? War da irgendwas Ungewöhnliches?«
    Er nickte mit finsterer Miene. »Im hinteren Teil des Hauses fand ich einen abgesperrten Trakt. Eine Etage die Wendeltreppe hinauf war ein großes Schlafzimmer. Es war zur Hälfte neu gemacht. Brandneue Holzdielen. Man konnte genau erkennen, wo die alten auf die neuen trafen. Ich habe mich gefragt, ob das nach einem Brand neu gemacht wurde. Und vielleicht war das das Zimmer der Spinne. Aber da war gar nichts. Kein Foto, kein Kollar. Nichts.«
    »Was ist mit dem Pontiac, den du auf dem Parkplatz vom Evening Shade Motel gesehen hast?«
    »Ich glaube, der gehörte einem der Hauswarte. Ich musste den Türknauf von Ashleys Tür abgeschraubt liegen lassen, also wussten sie, dass jemand in dem Zimmer gewesen war.«
    »Irgendein Zeichen, dass sie in den Tagen vor ihrem Tod da gewesen war?«
    »Ja«, räumte er leise ein. »Ich weiß nicht wie, aber …« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und war sofort wieder verschwunden. »Sie lag noch in der Luft.«
    Er vermied ausdrücklich jeden Augenkontakt und nippte an seinem Kaffee.
    »Und jetzt bist du dran«, flüsterte Nora aufgeregt und beugte sich vor.

96
    Was hatte ich erlebt? Wusste ich es überhaupt?
    Ich erzählte ihnen alles, an das ich mich erinnerte, angefangen mit den Hunden, die mich verfolgten, bis zu meiner Rückkehr zum Evening Shade Motel. Es war keine bewusste Entscheidung von mir, ihnen alles so ausführlich zu erzählen – Nora wirkte ergriffen, Hopper ein wenig wütend, so dass ich mich fragte, ob es schlau war, so unzensiert zu berichten –, doch jedes Wort, das ich sagte, schien das

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