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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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essen wollte, sondern floh gleich nach oben in Sams Zimmer.
    Ich ging in mein Büro. Es wirkte ernst und unberührt. Ich sah mir die Fenster an, die Nacht. In diesem Augenblick wünschte ich, Septimus würde mich vom Fensterbrett aus begrüßen. Ich hätte seine Gesellschaft gebrauchen können; er war vielleicht nur ein Wellensittich, aber er war vernünftig. Doch wir hatten ihn in Pflege gegeben. Hier war nichts und niemand.
    Ich versuchte, Cynthia anzurufen – ich hatte das überwältigende Verlangen, Sams leise Stimme zu hören, zu erfahren, dass es ihr gutging –, aber sie ging nicht ans Telefon. Ich hinterließ eine Nachricht. Dann ging ich nach oben und duschte, schloss alles, was ich aus The Peak mitgebracht hatte, in meinem Safe ein, und legte mich ins Bett. Ich hatte Brad Jacksons Mantel auf einem Bügel an die Innenseite meiner Schranktür gehängt. Er sah seltsam schlaff aus, merkwürdig leblos.
War ich da oben weit genug gegangen? Hatte ich in The Peak genug gesehen, um allem auf den Grund gehen zu können?

98
    Ich fuhr nach Luft schnappend hoch und rechnete damit, mir den Kopf an einem weiteren Hexagon zu stoßen, doch dann begriff ich, dass ich zu Hause war. Nora saß auf meiner Bettkante.
    »Gott. Hast du mich erschreckt.«
    »Tut mir leid«, sagte sie.
    »Alles in Ordnung?« Ich setzte mich auf und stopfte mir ein Kissen in den Rücken. Erleichtert stellte ich fest, dass sie nicht mehr weinte. »Kannst du nicht schlafen, wegen dem, was passiert ist? Ich bin sicher, dass du falschliegst, was Hopper angeht.«
    »Nein.
Ja.
Es ist nur …«
    »Was?«
    »Bis jetzt war Ashley lebendig, als wir ihre Spuren verfolgten. Jetzt kann ich spüren, dass sie weg ist. Als Hopper sich verabschiedete, hat mich das an Terra Hermosa erinnert. Da trifft dich jedes Ende, weil es so plötzlich kommt. An einem Tag sitzt Jean-Louise, die so gerne Blumen mag, mit ihrer Sauerstoffflasche im Esssaal und bestellt den Früchteteller. Und am nächsten Tag ist sie weg. Sie stellen ihnen bloß so eine kleine Gedenkstätte auf, und wie die aussieht, hängt davon ab, auf welchem Flur man gewohnt hat. Im Erdgeschoss stellen sie eine Staffelei mit einem laminierten Foto von einem auf, auf dem man lächelt und mit der Brille um den Hals strickt. Aber wenn man im dritten Stock gewohnt hat, legen sie ein Gästebuch aus, mit Blumen und einem Gedicht, das sie aus dem Internet ausgedruckt haben. Und das war’s. Nach zwei Wochen bauen sie alles wieder ab, die Poster und das Gästebuch, und dann ist es, als wäre man nie da gewesen. Ich
hasse
das.«
    »
Ich
hasse das auch.«
    »Das ist nicht fair.«
    »Stimmt. Aber so läuft das eben. Das macht das Leben erst so großartig. Dass es zu Ende ist, wenn wir es noch nicht wollen. Das Ende gibt dem Ganzen erst seine Bedeutung. Aber jetzt, wo du es erwähnst, versprichst du mir, mich kaltzumachen, wenn ich über neunzig bin und nirgendwo mehr ohne Sauerstoffflasche hingehen kann? Mach dir einen schönen Tag daraus. Roll mich einfach mit meinem Rollstuhl von der George-Washington-Bridge, und dann war’s das. Abgemacht?«
    Die Bitte schien sie zum Lächeln zu bringen. »Abgemacht.«
    »Das sollten sie bei der Trauung unbedingt anfügen. ›Willst du mich lieben, ehren, mir gehorchen und mich umbringen, wenn ich nicht mehr alleine in der Dusche stehen kann?‹«
    »Ich liebe dich, Scott.«
    Die Worte platzten aus ihr heraus. Sie erwischten mich so unvorbereitet, dass ich nicht sicher war, richtig gehört zu haben. Doch dann rutschte sie im Dunkeln nach vorne, küsste mich auf den Mund und setzte sich wieder auf die Bettkante. Sie sah mich so konzentriert an, als habe sie gerade eine neue Zutat zu einem Chemieexperiment hinzugefügt.
    »Wieso hast du das getan?«
    »Ich sag doch, ich liebe dich. Nicht als guten Freund oder als Chef, sondern echte Liebe. Das weiß ich seit vierundzwanzig Stunden.«
    »Klingt wie eine Magenverstimmung, das legt sich wieder.«
    »Ich meine es ernst.« Sie setzte sich im Schneidersitz auf meine Schienbeine, und bevor ich sie davon abhalten konnte, fasste sie meinen Kopf mit beiden Händen und drückte mir einen weiteren Kuss auf den Mund. Ich war fast zu erschöpft, um etwas dagegen zu unternehmen, doch es gelang mir, sie bei den Schultern zu packen und wegzudrücken.
    »Du musst zurück ins Bett.«
    »Findest du mich nicht hübsch?«
    »Du bist hinreißend.«
    Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. Sie sah mich an, als sei ich ein Teil eines Globus, den

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