Die amerikanische Nacht
sie noch nie genauer untersucht hatte, ein Ozean mit Ketten von namenlosen Inseln.
»Und wo liegt das Problem?«
»Soweit ich weiß, sind Woodward und Bernstein nie so weit gegangen. Ich fände es besser, wenn wir das auch nicht täten.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Du hast dein Leben noch vor dir. Du bist jung und ich … bin ein altes Fahrrad.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese unglückliche Metapher gekommen war – vielleicht schlief ich noch halb –, doch ich sah mich plötzlich als rostiges Schrottrennrad vor mir, ohne Vorderrad und mit einem aufgeschlitzten Sattel, aus dem der Schaumstoff hervorquoll.
»Bist du nicht. Du bist toll.«
»
Du
bist toll.«
»Naja, wenn zwei Menschen das so sehen, sollten sie zusammen sein, ohne darüber nachzudenken.« Sie legte sich eifrig neben mich, als wäre das Bett ein enges Campingzelt. Sie fühlte sich knochig und leicht an, und als sie sich auf mich rollte, fielen ihre nach Seife duftenden Haare in mein Gesicht, ein Wasserfall, der mich umfloss.
»Nora. Bitte. Geh ins Bett.« Ich schob sie weg, diesmal mit ein wenig mehr Nachdruck. »Ich liebe dich auch«, sagte ich. »Das weißt du doch – aber nicht so.«
Ich war mir bewusst, wie schlampig zusammengeflickt meine Worte klingen mussten – ich war auf einmal ein kleiner Junge im Schulflur, der vor der Mathestunde vor seinem Spind steht. Aber so lief es manchmal. Wenn man die Sprache wirklich brauchte, zerbröselte sie einem im Mund zu Staub. Genau dann werden die wichtigen Sachen gesagt.
»Wieso behandelst du mich, als würde ich meine eigenen Gefühle nicht kennen?«
»Erfahrung. Ich bin dreiundvierzig. Vielleicht schon vierundvierzig.«
»Früher wurden die Menschen nicht älter als dreißig. Da wäre ich schon uralt.«
»Und ich tot.«
»Warum musst du immer Witze machen? Warum kannst du nicht einfach
sein
?«
Ich antwortete nicht, sondern hielt ihr nur meine Hand hin und wartete, dass sie sie nahm.
»Du weißt, dass ich immer am Spielfeldrand stehen«, sagte ich, »und dich anfeuern werde. Du bist eine starke Frau. Und du wirst weiterhin stark sein, noch meilenweit. Jahrelang. Ich würde dich nur ausbremsen.«
»Vielleicht will ich ja langsam sein. Wieso bewegen sich die Menschen immer voneinander weg?« Sie war jetzt wieder den Tränen nahe und zog ihre Hand weg. »Hopper hat recht. Du liebst niemanden. Nur dich selbst.«
Sie wartete, ob ich ihr widersprach, doch das tat ich nicht. Vielleicht war es der Effekt der letzten drei Tage. Ich war ausgebrannt, hatte keine Willenskraft mehr. Ich konnte mein Leben jetzt nur noch beobachten und zusehen, wie es sich in seiner ganzen blutigen Pracht vor mir drehte und wand.
»Du wirst alles kaputtmachen. Genau wie Hopper gesagt hat. Ich bin dir völlig egal. Und Ashley auch. Sie bedeutet dir nichts. Noch nicht mal jetzt. Für dich zählt nur deine Jagd.«
Sie kämpfte sich aus dem Bett, ein weißer Komet, der durch das Zimmer schoss.
»Nora«, rief ich hinter ihr her.
Doch sie war weg.
99
Mein Wecker klingelte um sieben. Um halb acht war ich aus der Tür.
Ich fuhr mit dem 1 -Train die Westside hinauf zu Barney Greengrass – dem berühmten, hundert Jahre alten jüdischen Deli-Geschäft. Ich kam dort an, als der Laden öffnete, und fuhr anschließend, mit einer Tüte voller Bagels und einem frischen Räucherlachs in der Hand, mit dem M-Train bis zur Endstation, der Metropolitan Avenue in Middle Village, Queens. Wenn ich Sharon Falcone schon unangekündigt an einem Sonntagmorgen besuchte, musste ich wenigstens ein Gastgeschenk dabeihaben, und Sharon hatte eine Schwäche für Mohnbagels, Lachs aus Nova Scotia und eine jüdische Spezialität namens
Schmalzhering
, ein gepökelter Weißfisch, der für mich wie Leder mit Salzkruste schmeckte. Sharon fand ihn himmlisch.
Sie wohnte in einem Verbrecherfoto von einem Haus: roter Klinker, ernüchtert, übernächtigt, vierschrötig. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich sie einmal nach Hause gebracht, weil wir bis spät in die Nacht am selben Fall gearbeitet hatten – ihr Vater war kurz zuvor gestorben und hatte ihr das Haus vermacht –, und ich hatte mir insgeheim die Adresse gemerkt, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich sie einmal aufsuchen musste.
Es gab keine Reaktion, als ich klingelte, also setzte ich mich auf die mit Laub bedeckten Stufen und wartete. Ich fragte mich, ob sie bereits zur Polizeiwache in die Stadt aufgebrochen oder ob sie umgezogen war. Doch dann bemerkte ich die
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