Die amerikanische Nacht
leere Hundewasserschale, den abgekauten Tennisball unter dem einzigen Busch im Garten, und fünfzehn Minuten später sah ich Sharon, die über den Gehsteig gewalkt kam. Sie hatte ihre weinrote North Face-Jacke an und trug zwei große Pappbecher Kaffee. Wie nicht anders zu erwarten, wirkte sie nicht überrascht, mich zu sehen.
»Falls du Bibeln verkaufen willst, ich hab’ schon zwölf«, sagte sie und lief an mir vorbei die Treppe hinauf.
»Ich hab’ eine andere große Glaubensrichtung anzubieten. Barney Greengrass.«
Glücklicherweise konnte sie es sich nicht verkneifen, einen neugierigen Blick auf die Plastiktüte in meiner Hand zu werfen. Doch sie sagte nichts, und dann balancierte sie geschickt einen Kaffeebecher auf dem anderen, öffnete die Fliegengittertür, schloss auf und flitzte hinein, so schnell wie ein Maulwurf, der sich verbuddelt. Sie war sauer, dass ich bei ihr aufgetaucht war, das war klar, andererseits hatte sie die Tür nicht zugeknallt und verriegelt.
»Vor ein paar Tagen hat mir so ein Mädchen auf Band gesprochen und behauptet, du seist in Lebensgefahr.« Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie an einen Haken.
»Das war meine Assistentin, Nora. Sie übertreibt manchmal etwas …«
»Ich weiß nicht, wieso sie dachte, das sei etwas anderes als eine großartige Neuigkeit.«
»Tut mir leid«, sagte ich durch das Fliegengitter. Sharon verschwand jetzt im Flur. »Tut mir leid, dass ich hier bin. Aber ich brauche deinen Rat, und wenn ich nicht glauben würde, dass es dich interessiert, würde ich dich nicht behelligen. Hör’s dir erst mal an. Danach kannst du mich rauswerfen. Und was uns beide angeht, wir sind uns nie begegnet.«
Diese Aussicht war offenbar verlockend, denn keine Minute später brachte sie mich in ihr Esszimmer oder vielleicht auch ihr Wohnzimmer. Was auch immer es war, der Raum war leer bis auf einen gelben Teppich, einen wackligen Klapptisch, zwei Stühle und ein großes Kissen in der Ecke, das voller Hundehaare war.
Ich öffnete meine Jackentasche und holte zwei Plastikbeutel hervor. In dem einen war das blutgetränkte Kinderhemd, in dem anderen steckten die Knochen. Selbstverständlich rückte ich nicht damit heraus, wo ich die Sachen gefunden hatte, aber Sharons wütender Miene nach zu urteilen hatte sie so einen Verdacht. Doch sobald sie das Hemd auf dem Tisch sah, änderte sich ihre Haltung. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich weder falschlag noch verrückt war, denn wenn das Hemd sogar Sharon Falcone überrumpeln konnte, selbst wenn es nur ein Requisit sein sollte, dann war es zumindest ein realistisches. Ohne es aus den Augen zu lassen, stellte sie die zwei Kaffees ab – es war eindeutig, dass beide für sie gedacht waren – und untersuchte das Hemd durch das Plastik hindurch. Sie fokussierte es wie ein Mikroskop, konzentrierte sich ganz darauf und regte sich nicht.
»Ist das Blut?«, fragte ich.
»Schwer zu sagen. Wenn ja, dann ist es ein alter Fleck. Mindestens zehn Jahre. Das muss irgendwo gelegen haben, wo es trocken war, sonst hätten sich die Baumwollfasern zersetzt. Oder der Stoff enthält eine Kunstfaser. Es verhält sich jedenfalls wie Blut, weil es so steif ist. Keine andere Substanz sorgt für eine solche Festigkeit.«
»Was ist mit den Knochen?«
Sie holte sie aus dem Plastikbeutel hervor und wog sie in ihrer Hand.
»Keine Ahnung. Da müsste erst ein Anthropologe draufgucken.«
»Könnte das ein Teil eines Kinderfußes sein?«
»Der menschliche Fuß ist lang und schmal, das Gewicht lastet vor allem auf der Ferse. Ein nichtmenschlicher Fuß ist breiter, und das Gewicht lastet auf den Zehen. Aber je jünger die Knochen sind, desto schlechter erkennbar sind sie, weil sie dann noch nicht voll entwickelt sind. Die Rippen von Kleinkindern können selbst auf makrostruktureller Ebene wie die eines kleinen Tieres aussehen. Die Schädelknochen von Kindern ähneln oft Schildkrötenpanzern.«
Sie sprach nicht weiter, legte nur den Plastikbeutel zur Seite, nahm einen ihrer Kaffees, trank einen Schluck und beobachtete mich.
»Übrigens rollen gerade ein paar Köpfe wegen des Selbstmordes, für den du dich so interessierst.«
Sie meinte Ashley. »Wessen Kopf?«
»Du erinnerst dich doch, dass ein Anwalt sich gegen eine Obduktion eingesetzt hat, weil der jüdische Glaube das als Leichenschändung ansieht. Der Gerichtsmediziner kann sich darüber hinwegsetzen. Und das hatte er auch vor. Bloß ist die Leiche über Nacht verschwunden. Deshalb fehlen
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