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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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dass es sich um einen spitzen Fingernagel handeln musste, gewunden und fünf Zentimeter lang.

101
    Als ich in der Perry Street ankam, war es bereits nach vier Uhr nachmittags.
    Ich freute mich darauf, Nora von Sharon zu erzählen und ihr den schwarzen Stachel zu zeigen, den man mir gerade aus der Hand gezogen hatte. Und dann würden wir uns an die Arbeit machen. Doch als ich meine Wohnung betrat, hörte ich von oben ein seltsames Gepolter.
    Ich lief hoch in Sams Zimmer, das aussah, als sei Moe Gulazars Garderobe – vielleicht sogar Moe selbst – auf dem Teppich explodiert. Paillettenbesetzte goldene Leggings, eine Nerzstola (die unter Räude litt), Seidenblusen und gestreifte Krawatten lagen überall verteilt. Nora packte in einer schwarzen Jodhpurreithose und einem Smokinghemd mit hochgekrempelten Ärmeln ihre Kleider ein. Mir fiel auf, dass Jesus und Judy Garland nicht mehr an der Wand klebten.
    »Was machst du da?«, fragte ich.
    Sie sah mich über die Schulter an und drehte sich dann wieder weg, um eine lila Hot Pants zu falten und in eine ihrer Drogeriemarkttüten zu stopfen.
    »Ich ziehe aus.«
    »Was?«
    »Ich ziehe
aus
. Ich habe ein tolles Zimmer gefunden.«
    »Wann?«
    »Jetzt gerade. Der Fall ist für mich erledigt.«
    »Okay. Erstens, man findet nicht mal eben ein tolles Zimmer in New York City. Das dauert Monate. Manchmal Jahre.«
    »Bei mir nicht.«
    »Und woher hast du dieses tolle Zimmer? Vom Erzengel Gabriel?«
    »Bei Craigslist gefunden.«
    »Okay. Ich erklär dir mal was. Die Leute, die bei Craigslist inserieren, sind entweder Nutten, gemeingefährliche Irre oder Massagesalons, die ein Happy End versprechen.«
    »Ich hab’ es mir schon angesehen.«
    »Wann?«
    »Heute Morgen. Das Zimmer ist riesig, in einem Stadthaus im East Village, mit einem großen Erkerfenster. Licht ohne Ende. Ich muss nur fünfhundert im Monat zahlen und mir das Bad mit dieser coolen alten Hippie-Frau teilen.«
    Ich holte tief Luft. »Ich erzähl dir jetzt mal was über coole alte Hippies im East Village. Die sind verrückt. Die studieren Tarot-Karten und essen Soja. Manchmal essen sie auch die Tarot-Karten und studieren Soja. Die meisten haben die Insel hier nicht mehr verlassen, seit Nixon Präsident war. Denen wachsen erkennbare Pflanzen unter den Zehennägeln. Vertrau mir, ich kenn’ mich da aus.«
    »Wir haben gerade was zusammen gegessen. Sie ist super nett.«
    »Super nett?«
    Sie nickte. »Sie baut Biotomaten an.«
    »Und düngt sie mit den Kadavern ihrer dreißig Katzen.«
    »Sie war viele Jahre Assistentin von Avedon.«
    »Das behaupten sie alle.«
    »Und sie hatte eine Affäre mit Axl Rose. Er hat ein Lied über sie geschrieben.«
    »Wahrscheinlich ›Welcome to the Jungle‹.«
    »Ich versteh nicht, wieso du dich so aufregst. Das wird cool.«
    Das wird cool.
Es fühlte sich an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen und als stünde ich barfuß auf dem Parkett.
    »Es ist wegen letzter Nacht«, sagte ich.
    Sie hob nur ihr Kinn, nahm sich ihr Harmony Highschool-Jahrbuch und blätterte es mit übertriebenem Stirnrunzeln durch.
    »Du bist sauer, weil ich ein Gentleman war? Und die Grenzen unserer Arbeitsbeziehung respektiert habe?«
    Sie klappte das Buch zu und steckte es in ihre Tasche.
»Nein.«
    »Nein?«
    »Nein, es ist wegen des ›Hamlette‹-Vorsprechens am Flea Theater.«
    »Das ›Hamlette‹-Vorsprechen am Flea Theater.«
    Sie nickte triumphierend. »Sie wechseln bei allen Rollen das Geschlecht, so dass es endlich gute Rollen für Frauen gibt. Ich spreche als Ham
lette
vor, deshalb muss ich rund um die Uhr die Monologe einstudieren. Das würde dich verrückt machen, weil du meine Schauspielerei nicht ausstehen kannst.«
    »Das stimmt nicht. Ich mag es inzwischen gerne, wenn du schauspielerst.«
    Sie faltete eine alte graue Strickjacke mit einem fliegenden Vogel aus Pailletten an der Schulter und einem riesigen Loch am linken Ellenbogen, das mich an einen tonlos schreienden Mund erinnerte.
    »Du hast gestern selbst gesagt, dass ich etwas Neues ausprobieren soll und dass du mich dabei anfeuern wirst. Genau das tue ich.«
    »Warum solltest du auf mich hören?«
    »Ich hatte ja gesagt, dass es nur vorübergehend ist. Bis wir mehr über Ashley herausgefunden haben. Das haben wir jetzt. Und ich habe jetzt Geld.«
    Ich hatte Nora bezahlt, bevor wir nach The Peak aufgebrochen waren, inklusive einer ansehnlichen Bonuszahlung, die ich jetzt bereute.
    »Außerdem wirst du damit beschäftigt

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