Die amerikanische Nacht
Wellen.
Wieso ging ich davon aus, dass alles gut werden würde, dass ich The Peak verarbeiten würde, als wäre es eine Reise nach Ägypten gewesen oder dieses eine Mal in Mitú, wo man mich elf Tage lang in eine Zelle gesperrt hatte – eine qualvolle Erfahrung, die man verdauen und vergessen konnte? Das hier war anders. The Peak und die Wahrheit über das, was Cordova getan hatte, lag mir immer noch äußerst lebendig im Magen, pulsierend und geifernd und intakt, und sorgte dafür, dass es mir immer schlechter ging, vielleicht brachte es mich sogar um.
Diese Ruhelosigkeit war noch schlimmer zu ertragen, weil ich ganz alleine war. Alle waren weg. Nora hatte recht behalten. Hopper war genauso damit fertig wie sie. Ich rief ihn zweimal an, erreichte ihn aber nicht. Ich verstand es nicht – dass sie beide den Fall und mich einfach so hinter sich lassen konnten, dass sie zu dem Schluss kommen konnten, dass es hiermit zu Ende war. Wollten sie nicht wissen, ob ich da oben echte Knochen gefunden hatte, ob noch andere Kinder bei Cordovas wahnsinnigen Versuchen verletzt worden waren, Ashleys Leben zu retten? Waren sie nicht neugierig, eine Antwort auf die noch immer ungeklärte Frage zu finden – wo Cordova jetzt war?
Ich zog alle möglichen vernichtenden Schlüsse – dass sie mir endlich ihr wahres Gesicht gezeigt hatten; dass sie jung und oberflächlich waren; dass dies Rückschlüsse auf den problematischen Zustand der heutigen Jugend erlaubte; vom Internet großgezogen, huschten sie von einem Interesse zum nächsten, mit der ganzen Schwere eines Mausklicks – doch in Wahrheit vermisste ich sie. Und ich war wütend, dass sie mir nicht egal waren.
Es erinnerte mich an Cleos Ankündigung vor Wochen, als sie den Todesfluch an unseren Schuhsohlen entdeckt hatte.
Es reißt die besten Freunde auseinander, isoliert einen und bringt einen dazu, sich gegen die Welt zu stellen, so dass man an die Grenzen gedrängt wird, in die Randbereiche des Lebens. Es treibt einen in den Wahnsinn, was auf eine Art schlimmer ist als der Tod.
Ich hatte sie nicht ernst genommen. Jetzt musste ich feststellen, wie zutreffend die Vorhersage war, die Isolation und die zerbrochenen Freundschaften, das Gefühl, an den Rand des Lebens gedrückt zu werden.
Nachdem ich drei Tage lang dem Karton mit den Unterlagen zu Cordova aus dem Weg gegangen war und Antibiotika und Steroide für meine Hand und gegen den Hautausschlag genommen hatte, wurde mir klar, dass ich mich beim Versuch, mich zu entspannen, nur schlecht fühlte. Ich hatte keine andere Wahl, als es im Trüben zu belassen.
Um elf Uhr am Mittwochabend rief ich ein Taxi und bat den Fahrer, mich zur 83 Henry Street zu bringen. Falcone hatte, wenig überraschend, die Wahrheit gesagt. Als ich die Straße überquerte und mir das heruntergekommene Mietshaus unter der Manhattan Bridge ansah, schien es mir, als seien alle Bewohner ausgezogen, aus welchen Gründen auch immer. Jetzt waren alle Fenster schwarz, obwohl ich im fünften Stock noch immer die gerafften, hauchdünnen rosa Gardinen erkennen konnte. Ich versuchte, die Haustür zu öffnen. Sie war natürlich abgeschlossen; doch als ich durch das kleine Fenster blickte, sah ich, dass alle Namen von den Briefkästen entfernt worden waren.
Ich machte mich auf den Weg zur Market Street und kam am Hao Hair Salon vorbei, in dessen Schaufenster ich vor Wochen Ashleys Bild geklebt hatte. Ich war überrascht zu sehen, dass es immer noch dort hing, jetzt von der Sonne ausgeblichen.
Ashley war nicht viel mehr als ein geisterhaftes Gesicht, die Worte HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN ? waren kaum noch lesbar. Beim Anblick des Flyers hatte ich das bohrende Gefühl, dass mir die Zeit davonlief – oder vielleicht ging das Leben einfach weiter.
Hopper und Nora waren weg, genau wie Ashley.
Unter Verwendung des Originals © Melanie Pepper
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Ich hatte es unzählige Male bei Cynthia versucht, weil ich wissen wollte, wie es Sam ging, doch ich hatte nichts von ihr gehört. So sehr mich ihr Mauern auch in den Wahnsinn trieb, es schien zu bedeuten, dass es Sam gutging; wenn wirklich etwas passiert wäre, hätte sie mich angerufen. Zumindest redete ich mir das ein.
Wie Sharon Falcone gesagt hatte, würde es mindestens einen Monat dauern, bis ich erfahren würde, ob ich in The Peak echte Menschenknochen gefunden hatte. In der Zwischenzeit galt es, ein paar wichtigen
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