Die amerikanische Nacht
verschiedene Rettungsaktionen ausgemalt – ich würde durch den Haupteingang stürmen, die neun Katzen aus dem Weg räumen, den Waschbär und vier Jahrzehnte
Village Voice
, an den Kiffern vorbei, die auf dem Sofa rummachten, und an dem psychedelischen Poster zum »Human Be-In«, und nach oben in Noras Zimmer rennen: ein Rattenparadies, in dem es nach altem Spülschwamm stank. Nora würde auf der Kante eines Futons sitzen und aufspringen, um mir die Arme um den Hals zu schlingen.
Woodward! Ich habe einen großen Fehler gemacht.
Andererseits. Das Gebäude war tatsächlich in keinem guten Zustand – rostige Klimaanlagen, Blumenkästen voll toter Pflanzen –, aber im Erdgeschoss und im ersten Stock entdeckte ich nicht nur ein, sondern zwei Erkerfenster, und in beide schien
Licht ohne Ende
.
Doch bisher hatte niemand die Tür geöffnet. Nora drückte die Klingel ein zweites Mal.
Lass niemanden zu Hause sein. Mach, dass die supernette Hippie-Tante einen Notfall in der Familie in Woodstock hat.
Und wenn doch jemand öffnen sollte, lass es bitte einen halbnackten Singer-Songwriter sein, mit einem Tattoo auf der Brust,
Welcome to the Rainbow
.
Lass mich sie nur noch einmal retten.
Die Tür öffnete sich und eine mollige Frau mit krausem, grauem Haar erschien. Sie hatte eine gestreifte Schürze umgebunden, die mit Blumenerde oder Ton beschmiert war. Sie interessierte sich eindeutig für Tarot-Karten und Soja, aber mit allem anderen könnte ich danebengelegen haben. Nora sagte etwas und die Frau lächelte. Sie nahm eine der Drogeriemarkttüten und die beiden verschwanden im Haus. Die Tür fiel ins Schloss.
Ich wartete, dass noch etwas passierte – dass Musik eingeschaltet wurde oder ein Licht. Aber es geschah nichts, nicht für mich, jetzt nicht mehr. Nur eine sanfte Brise blies den Häuserblock entlang und wehte die vereinzelten gelben Blätter und den verstreuten Müll am Bordstein vor sich her.
Ich ging nach Hause.
102
Ich hatte es für eine gute Idee gehalten, mich ein paar Tage von The Peak zu erholen und den Kopf freizubekommen, bevor ich meine Gedanken ordnen und die Recherche zu Ende bringen würde. Ich hatte wieder dieses hartnäckige Gefühl, meilenweit durch schwarzes Wasser geschwommen zu sein, als sei ich immer noch voller Blei und als sei mein Verstand mit Schlamm verklebt.
Doch das echte Leben meldete sich. Offene Rechnungen warteten auf mich, Mailboxnachrichten und Monate alte E-Mails, die ich noch nicht geöffnet hatte, einige von Freunden, die in der Betreffzeile
Mache mir Sorgen
oder
Alles in Ordnung und
WTF ???
geschrieben hatten. Ich antwortete ihnen allen – ich hatte mir eine Woche vor dem Aufbruch nach The Peak einen neuen Laptop gekauft –, doch selbst diese einfache Aufgabe kam mir sinnlos und lästig vor.
Ich begriff langsam, mit einer Art morbider Faszination, dass ich The Peak eigentlich gar nicht verlassen hatte – zumindest nicht komplett. Denn sobald ich im Bett lag und das Licht ausgeschaltet war, brauchte ich bloß die Augen zu schließen und war wieder dort. Vielleicht hatte ich meinen Auftrag dort noch nicht zu Ende gebracht und würde von jetzt an immer wieder zurückkehren, so wie andere im Traum zu den goldenen Tänzen ihrer Kindheit oder zu Schlachtfeldern zurückkehrten, oder zu Wochenenden im Haus am See mit einem Mädchen im roten Bikini. Halb wach und halb träumend tauchte ich wieder in das Anwesen ein, ging durch seine dunklen Gärten mit den zerhackten Statuen, an den Hunden vorbei und den von Schatten getragenen, mich blendenden Taschenlampen. Ich lief wieder durch die Tunnel, diesmal nicht auf der Suche nach Beweismaterial, um Cordova zu belasten, sondern nach einem wichtigen Teil meiner selbst, den ich versehentlich dort verloren hatte – einen Arm oder meine Seele.
Und diese Angst, die ich gespürt hatte, diese körperlose Verwirrung, schien eine Droge zu sein, nach der ich jetzt süchtig war, denn mich durch die gewöhnliche Welt zu bewegen – CNN einzuschalten, die
New York Times
zu lesen, zu Sant Ambroeus zu gehen und an der Bar stehend einen Kaffee zu trinken – laugte mich aus, deprimierte mich sogar. Vielleicht litt ich unter demselben Problem wie der Mann, der die Welt umsegelt hatte und jetzt vor seinem Farmhaus stand, seiner Frau und den Kindern, und begriff, dass die Gleichförmigkeit der Heimat, die sich vor ihm erstreckte wie ein ausgetrocknetes plattes Feld, unendlich erschreckender war als jede Sturmböe mit zehn Meter hohen
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