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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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geweiht.«
    »Aber es gibt einen Ausweg …«
    »Nein.« Er hob eine Augenbraue. »Es besteht die unwahrscheinliche Möglichkeit, durch einen kompletten Sinneswandel zu überleben. Aber das ist so schwierig, wie von einem Hochhaus zum nächsten zu springen. Meistens endet es damit, dass man auf den Gehsteig aufschlägt, entweder tot oder in einer stickigen Hölle gefangen, eingesponnen wie Leigh am Ende von ›La Douleur‹.«
    Ich notierte es mir. »Was ist mit Boris, dem Sohn des Einbrechers?«
    »Das war Cordovas langjähriger Stuntman. Sein vollständiger Name ist Boris Dragomirow. Ein kleiner, aber sehr muskulöser Russe. Sein Vater war ein berüchtigter Gangster, der in ihrem Heimatland nur als Das Blaue Auge bekannt war. Ihm gelang es, aus jedem einzelnen Gulag zu entkommen, in das sie ihn steckten, und er brachte seinem Sohn Boris alle seine Tricks bei. Cordova setzte Boris in jedem seiner Filme ein. Er hat die ganze Drecksarbeit erledigt, Gaunereien, Schlägereien, Einbrüche, Autounfälle und gefährliche Sprünge. Seine größte Rolle war die des Erpressers in ›Ein Riss im Fenster‹, der auf der anderen Seite vom Beichtstuhl erscheint und Jinley zu Tode erschreckt. Er rennt so schnell wie ein Maserati Turbo und kann jederzeit von überall entkommen.«
    Ich brauchte nur eine Sekunde, um zu wissen, wo ich ihm begegnet war.
    »Ich habe ihn verfolgt«, sagte ich. »Und mit ihm gesprochen.«
    »Du
hast
mit Boris, dem Sohn des Einbrechers
gesprochen?
«
    Ich erzählte ihm kurz, wie er in meine Wohnung eingebrochen und dann über den Westside Highway auf das Pier geflüchtet war, sich als schwuler Mann ausgegeben hatte und von einem Augenblick zum anderen verschwunden war.
    »McGrath, wie konntest du darauf reinfallen? Er hat den
Geilen Alten Knacker
eingesetzt, einen seiner legendärsten Schwindel.«
    »Was ist mit Einäugiger Pontiac?«
    Beckman verschränkte nachdenklich die Finger. »Es gibt immer einen dunklen Pontiac, schwarz, blau oder kastanienbraun, mit nur einem Scheinwerfer. Das Objekt oder die Person, die der Wagen mit seinem grellen Licht anleuchtet, wird vernichtet.«
    Ich erinnerte mich sofort: Hopper hatte behauptet, so ein Auto auf dem Parkplatz des Evening Shade Motels gesehen zu haben, als sie auf meine Rückkehr aus The Peak warteten. Ich notierte es mir hastig, während Beckman sich ansah, was ich da schrieb.
    »Du hast den Einäugigen Pontiac gesehen?«
Beckman schnappte nach Luft. »Sag nicht, du warst im Scheinwerferlicht …«
    »War ich nicht. Jemand anderes hat ihn gesehen. Und die Spanner-Einstellung?«
    Er blinzelte in nervöser Verzweiflung. »Das ist Cordovas Markenzeichen, genau wie Tarantinos typische Kameraeinstellung aus dem Kofferraum heraus. Die Spanner-Einstellung ist auf eine Person gerichtet, die nicht ahnt, dass er oder sie beobachtet wird. Die Einstellung ist immer eingerahmt von einer zugezogenen Gardine, einer Jalousie, einer dreckigen Heckscheibe oder einer angelehnten Tür.«
    Ich dachte nach, aber dies schien nichts von dem zu erklären, was mir im Laufe der Nachforschungen begegnet war.
    »Und der Wissen-nicht-was?«, fragte ich weiter.
    Beckman zuckte mit den Schultern. »Das ist der Handlanger, die rechte Hand, der Mann, der vorgeschickt wird, der Lakai. Er kommt, wenn sein Boss keine Lust hat, führt seine Befehle passiv und ohne eigenes Urteil aus und lässt auf diese Weise eine dunkle, böswillige Macht auf die Welt los. Der Begriff stammt natürlich aus der Bibel, Lukas, Kapitel dreiundzwanzig: ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹.«
    Ich zerbrach mir kurz den Kopf, doch dann kam ich dahinter. Es war so offensichtlich, dass ich fast laut aufgelacht hätte. Ich schrieb seinen Namen auf.
    »Theo Cordova?«, sagte Beckman, der jetzt mitlas. »Was ist mit Theo Cordova?«
    »Er hat mich verfolgt.«
    »Cordovas Sohn? Und woher weißt du, dass er es war?«
    »Ihm fehlten drei Finger an der linken Hand.«
    Beckman sah mich erstaunt an. »Das stimmt. Theo war immer schon ein seltsamer, stiller junger Mann. Von seinem Vater gequält und jahrelang unglücklich in eine ältere Frau verliebt.«
    Ich schrieb mir auch das auf.
»Tatar?«
    Beckman leckte sich eifrig die Lippen. »In jedem von Cordovas Filmen ist jemand zu sehen, oft ein Statist, der rohes Rinderhack isst. Naja.
Die nächste Person
, die nach diesem Rohverzehr in einer Halbnahaufnahme oder Nahaufnahme auf dem Bildschirm zu sehen ist, die ist bösartig. Sie ist insgeheim – in

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