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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Bandwurm, der seinen eigenen Schwanz gefressen hat. Es bringt nichts, ihm nachzustellen. Es gibt kein Ende. Er wird sich bloß um dein Herz schlingen und das Blut herauspressen.
    Zum ersten Mal lächelte mich Inez Gallo freundlich an. Und da wusste ich, dass ich falschlag. Denn es war
hier
. Das Ende. Der Schwanz.
    Ich hatte es doch noch gefunden.

111
    Ich konnte nicht glauben, dass es keinen Sicherheitsdienst gab.
    Ich erwartete etwas Tristes.
Wie konnte es anders sein?
Ein Ort, wo Männer und Frauen außer Sichtweite für den Rest ihres Lebens herumstolpern konnten – ein Ort wie
Terra Hermosa
. Ich hatte überlegt, Nora anzurufen und sie zu bitten mitzukommen, aber ich hatte das Gefühl gehabt, dass sie nein sagen würde, und sie nicht gefragt. Doch als ich vom Highway abfuhr und der ordentlich asphaltierten Einfahrt zu den cremefarbenen Schildern und Stuckgebäuden mit roten Ziegeldächern folgte, sah ich, dass die
Enderlin Estates
Seniorensiedlung alles tat, um an eine spanische
Hacienda
zu erinnern, die eine ausgedehnte
Siesta
hielt. Es gab Anpflanzungen, befestigte Höfe, zwitschernde Vögel und einen gepflasterten Weg, der sich vielversprechend in Richtung des Haupteinganges wand, versteckt hinter einem schmiedeeisernen Tor.
    Ich sah noch einmal auf den Zettel mit der Adresse, die mir Gallo genannt hatte.
    Enderlin Estates. Apartment 210 .
    Ich betrat die menschenleere Lobby, fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock und traf dort auf eine rothaarige Pflegerin hinter dem Empfang.
    »Ich suche nach Apartment 210 .«
    »Die letzte Tür am Ende des Ganges.«
    Ich ging den mit Teppich ausgelegten Flur entlang, an einer jungen Pflegerin vorbei, die eine ältere Dame mit Gehhilfe begleitete. Die Tür mit der Aufschrift
210
war geschlossen. Auf der kleinen blauen Tafel neben der Tür stand der wunderbare Allerweltsname
Bill Smith
.
    Ich klopfte an. Weil keine Reaktion kam, öffnete ich die Tür. Dahinter lag ein großes Wohnzimmer, spärlich möbliert und von Sonnenlicht durchflutet. Links ging es in ein Schlafzimmer mit einem Einzelbett, einer Kommode und einem Nachttisch – darauf stand nur eine Lampe und eine Marienfigur mit gefalteten Händen. Keine Fotos, keinerlei persönliche Gegenstände, aber darum hatte sich bestimmt Gallo gekümmert, damit er absolute Anonymität genoss oder, wie sie es ausdrückte, damit es keine dunklen Erinnerungen mehr gab.
»Was er jetzt braucht, ist Ruhe,«
hatte sie mich gewarnt.
    »Suchen Sie nach Bill?«, fragte eine fröhliche Stimme hinter mir.
    Ich drehte mich um. Eine Pflegerin stand in der Tür.
    »Den habe ich gerade in den Aufenthaltsraum gebracht.«
    Sie erklärte mir den Weg. Ich ging zurück zum Aufzug über den Hauptflur, an einem Kalender für die Aktivitäten und einer Ankündigung für den Filmabend vorbei –
Bogart und Bacall wieder vereint!
 –, und trat durch eine Doppeltür in einen altmodischen, verglasten Wintergarten. Der Raum war hell und freundlich, voller Topfpalmen, Blumen und weißer Korbstühle auf dem grauen Steinfußboden. Ich hörte leise klassische Klaviermusik – sie kam aus einer alten Stereoanlage neben einem mit Taschenbüchern gefüllten Bücherregal.
    Der Raum war voller Menschen. Ältere Männer und Frauen, die sich bewegten, als seien sie unter Wasser, mit Haar, das wie weiße Wolken aussah, saßen an Tischen und puzzelten oder spielten Dame. Dazwischen saßen ein paar Pflegerinnen und lasen leise aus Büchern vor, eine steckte gerade einem alten Mann eine rosa Nelke ans Revers.
    Doch mein Blick wurde von dem Treiben auf einen einzelnen Mann gezogen.
    Er saß allein in der hintersten Ecke des Raumes, mit dem Rücken zu mir. Vor ihm waren die Fenster, durch die er hinausstarrte. Und obwohl er im Rollstuhl saß und einen alten grauen Pullover und Opa-Schuhe trug, hatte er etwas Kräftiges an sich, etwas seltsam Unbewegliches.
    Ich ging auf ihn zu.
    Es war nicht zu erkennen, ob er mich bemerkt hatte. Er schien überhaupt nichts von dem zu bemerken, was in dem Raum geschah. Sein Blick – ohne diese tintenschwarzen runden Brillengläser, die er angeblich sein ganzes Leben lang getragen hatte – fixierte das, was hinter dem Fenster lag, eine große, von Bäumen gesäumte Rasenfläche wie ein leerer See, dessen Oberfläche goldgrün und hart in der Nachmittagssonne glänzte. Er hatte dichtes silberweißes Haar, das keine Anstalten machte, sich zurückzuziehen, und einen ansehnlichen Bauch, der weniger fett als majestätisch wirkte,

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