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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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sicher gewesen war, dass er mich ausmanövriert hatte, genau hier gewesen war –
vermutlich hatte er genau wie jetzt friedlich vor diesem Fenster gesessen.
    Diese Erkenntnis machte mich fassungslos.
    Sogar jetzt noch hatte er das letzte Wort.
    Ich bemerkte ein seltsames Gefühl in der Kehle. Es konnte ein Lachen gewesen sein, aber genauso gut ein Schluchzen. Denn während ich diesen Mann anstarrte, wurde mir klar, dass ich eigentlich mich selbst vor mir sah, das, zu dem ich viel eher und plötzlicher werden würde, als ich je gedacht hätte. Das Leben war ein Güterzug, der auf ein einziges Ziel zuraste, unsere Lieben zuckten als Streifen von Farbe und Licht an den Fenstern vorbei. Nichts konnte man festhalten, nichts konnte den Zug bremsen.
    Es war so ruhig neben ihm, so einsam. Ich hätte schwören können, dass ich ihn atmen hörte, jeden Atemzug, den er sich von der Welt auslieh und wieder freisetzte. Es war nicht die Lunge eines gewöhnlichen Mannes, sondern das leise Pfeifen eines Windstoßes, der über die Felsen an einer entlegenen Klippe hinwegfegte. Ich fragte mich – wieder spürte ich so ein unkontrolliertes Gefühl in der Brust –, was zur Hölle ich zu ihm sagen sollte, nach allem, was ich getan und gesehen hatte – ob ich überhaupt den Mut hatte, etwas zu sagen.
    Vielleicht würde ich einfach seine Schulter berühren, wie ein Kind, das vor den zusammengesetzten Knochen einer gefährlichen Dinosaurierart steht, von der er geträumt hat, über die er bei Tag und bei Nacht im Licht einer Taschenlampe unter der Decke gelesen hat, und mich fragen, ob ich durch diese Berührung ein Gefühl dafür bekommen konnte, wie er war, als er noch lebte, in seinen besten Jahren, als er als Naturgewalt in der Welt herumzog, als er nicht bloß ein Haufen stiller grauer Knochen in einer Ausstellung war, sondern ein prächtiger Anblick.
    Schließlich zog ich mir nur einen Stuhl heran und setzte mich neben ihn.
    Und dann starrten wir gemeinsam, gefühlte Stunden lang, auf diesen leeren Rasen hinaus, der in seinen strengen Grenzen und dem makellosen Grün die Leere zu enthalten schien, in die wir unsere Erinnerungen und Fragen legen konnten, das, was wir einmal geliebt, aber dann losgelassen hatten, und wir zählten die Dinge, die wir dort fanden. Als ich die Musik wieder wahrnahm, Klaviermusik, eine blasse, lustlose Annäherung an das, was Ashley gespielt hätte, begriff ich, dass ich dem Mann einfach nur Danke sagen würde.
    Das tat ich. Dann stand ich auf und ging, ohne mich umzusehen.

112
    Was kann ich über die folgenden Wochen sagen?
    Marlowe Hughes hat es auf den Punkt gebracht: »Wenn man nach der Arbeit mit Cordova wieder im echten Leben ankam, war es, als seien alle Farben verstärkt worden. Das Rot war roter. Schwarz schwärzer. Die Gefühle gingen tiefer, als sei das Herz riesengroß geworden, empfindlich und geschwollen. Man
träumte.
Was waren
das für Träume

    Ich fuhr von
Enderlin Estates
nach Hause, zog die Vorhänge zu und schlief zwanzig Stunden lang, einen Schlaf, der so schwarz und fest war wie der Tod. Erst am nächsten Tag bei Anbruch der Dämmerung wachte ich auf. Schatten flackerten über die Decke, das letzte Tageslicht ließ die Straße mit der Eleganz einer Erinnerung erröten.
    Mein altes Leben, dieser Straßenköter, nahm mich wieder auf.
    Ich war erschüttert, dass es schon Dezember war, der Tag vor Thanksgiving. Den Feiertag verbrachte ich mit einem Freund, die folgenden Abende mit anderen Freunden. Die meisten von ihnen nahmen an, dass ich weg gewesen war, auf Reisen. Ich ließ sie in dem Glauben. Auf eine Art stimmte es ja.
    »Du siehst
gut
aus«, sagten einige von ihnen, obwohl gewisse zögernde Blicke erkennen ließen, dass es nicht wirklich so war, dass etwas an mir anders war, etwas, an das sie lieber nicht rühren wollten. Ich fragte mich, halb im Ernst, ob dies ein Rest des Teufelsfluches war – ob man sich, auch wenn er sich als erfunden herausgestellt hatte, vielleicht nie davon erholen würde, einmal daran geglaubt zu haben. Vielleicht war in einige entlegene Dachgeschosszimmer im Gehirn gewaltsam eingebrochen worden – die Türen waren eingetreten, Lampen zerbrochen, Schreibtische umgeworfen worden und die Vorhänge tanzten seltsam neben den offenen Fenstern –, Zimmer, die man nie mehr erreichen würde und die nie mehr aufgeräumt würden.
    Doch ich war dankbar für die Gesellschaft, für meine Freunde, für die unbedeutenden Gespräche, die man vergessen

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