Die amerikanische Nacht
getan hatte, in der ich ihr begegnet war.
Ich blickte über den Bahnsteig, der vom grellen Neonlicht beleuchtet war, und fragte mich, ob ich durch bloße Willenskraft ihre Stiefel und den rotschwarzen Mantel sichtbar werden lassen konnte – ob sie ein letztes Mal erscheinen würde, damit ich einen Blick auf ihr Gesicht werfen konnte –, um ihre Wahrheit ein für alle Mal zu entschlüsseln.
Doch da war niemand.
Selbst das Plakat für den Sciencefiction-Film, das hier gehangen hatte – der rennende Mann mit den übermalten Augen –, war jetzt nicht mehr da. An seiner Stelle hing eine Werbung für eine romantische Komödie mit Cameron Diaz.
Sie versteht es einfach nicht
, lautete der Slogan.
Vielleicht sollte ich den Hinweis befolgen.
113
Einige Tage später nahm ich meine Cordova-Unterlagen – jedenfalls das, was davon übrig war –, räumte sie in den Karton und den Karton zurück in den Schrank. Septimus sah mir still dabei zu.
Ich brachte einen ganzen Berg dreckiger Kleidung zur Reinigung, unter anderem Brad Jacksons Fischgrätmantel. Doch als ich das traurige Teil unter den Stapeln meiner Hemden auf der Theke liegen sah, kam mir plötzlich der paranoide Gedanke, dass dies die letzte Spur eines Beweises war, meine letzte Verbindung zum Wahnsinn von The Peak, und wenn Brads Mantel gereinigt und gebügelt würde, in Plastik verpackt und an der Schulter mit einem Zettel versehen, auf dem
Wir lieben unsere Kunden!
stand, dann wären auch meine Erinnerungen verloren. Also zog ich das dreckige Stück umständlich aus dem Wäschehaufen und ging nach Hause, wo ich den Mantel hinter Ashleys roten in den Schrank stopfte und die Tür schloss.
Ich wollte Sam sehen. Ich wollte ihre Stimme hören, wollte, dass sie schwer an meinem Arm hing und mit zusammengekniffenen Augen zu mir hoch sah – aber Cynthia reagierte auf keinen einzigen meiner Anrufe. Ich fragte mich, ob ihr Schweigen bedeutete, dass sie mit ihren Anwälten einen Antrag auf eine neue Besuchsordnung vorbereitete, wie sie mir in der Notaufnahme angedroht hatte. Und dann rief mich mein alter Scheidungsanwalt mit genau dieser Nachricht an.
»Es gibt einen Gerichtstermin. Sie will die Besuche einschränken.«
»Wenn sie das so will.« Er wirkte erschüttert, was die typische Reaktion eines Anwaltes auf pure Nettigkeit war.
»Aber dann sehen Sie vielleicht Ihre Tochter nicht mehr.«
»Ich will, dass Sam glücklich ist. Lassen Sie uns so verbleiben.«
An einem Nachmittag Ende Dezember fuhr ich nach Uptown, um heimlich nach ihr zu sehen. Der Tag war grau und kalt, riesige Schneeflocken trieben verwirrt durch die Luft und vergaßen, zu Boden zu sinken. Ich wollte nicht, dass Sam mich sah, also hielt ich mich hinter ein paar parkenden Autos und einem Lieferwagen versteckt und beobachtete, wie sich die schwarzglänzenden Türen ihrer Schule öffneten und die in dicke Mäntel gehüllten Kinder auf den Gehsteig entließen. Zu meiner Überraschung wartete dort Cynthia. Nachdem sie Sams Hände in schwarze Handschuhe gesteckt hatte, brachen die beiden auf.
Sam trug einen neuen blauen Mantel. Ihr Haar war länger, als ich in Erinnerung hatte, und unter ihrer schwarzen Samtmütze zum Pferdeschwanz gebunden. Sie kam mir auch erwachsener vor, wie sie Cynthia ernst von ihrem Tag erzählte. Ich war überwältigt. Denn ich sah plötzlich vor mir, wie es ab jetzt immer sein würde. Sams Leben würde mir immer wie die Dias in einem alten Projektor erscheinen, durch die ich mich im Dunkeln klickte, verblüffende Zeitsprünge – und nie der ungeschnittene Film.
Aber sie war glücklich. Das konnte ich sehen. Sie war perfekt.
Als sie die Straße überquerten, erkannte ich nur noch den blauen und den schwarzen Mantel. Dann flutete eine Welle von gelben Taxis und Bussen die Fifth Avenue, und ich sah sie nicht mehr.
114
Sie kam am 4 . Januar: eine E-Mail von Nora, in der sie mich zu ihrem New Yorker Theaterdebüt ins Flea Theater einlud, zu dieser Geschlechter vertauschenden Off-Off-Broadway-Produktion von »Hamlette«. Ihr Vorsprechen war gut gelaufen und sie hatte den Hauptgewinn aller New Yorker Schauspieler gezogen – eine
bezahlte
Rolle. Zugegeben, sie spielte bloß die
Bernarda
, eine von zwei Burgwachen in Helsingör (eine Abwandlung von
Bernardo
), die nur in der ersten Szene des ersten Aktes zu sehen war, und sie bekam bloß dreißig Dollar pro Vorstellung –
aber immerhin
.
»Jetzt bin ich eine richtige Schauspielerin«, schrieb sie.
Ich ging zur
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