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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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dunkelsten Antworten. Diese Dichotomie war ein zentrales Motiv in Cordovas Werk: die Bösartigkeit des Erwachsenseins, die Reinheit der Jugend und das Aufeinandertreffen dieser beiden Pole. »Irgendwo in einem leeren Raum«, »Daumenschraube«, »Das Vermächtnis« und »Kind der Liebe« handelten auf eine Art davon, doch in »Deformation« und »Atmen mit den Königen« drehte er die Gleichung um und schrieb dem Kind die Verdorbenheit zu und den Erwachsenen die Heiligkeit. In »Kind der Liebe« sagte Marlowe Hughes einen Satz, der ein abgewandeltes Zitat von William Blake ist:
    Besser, man tötet ein unschuldiges Kind, dann ist es erledigt, als es zu misshandeln und ein Monster zu erschaffen.
    Ich musste an Morgan Devolds kleine Tochter Mellie denken, wie sie ganz leise hinter mir her die Auffahrt hinuntergetapst war und die Hand aufgehalten hatte, in der etwas Schwarzes lag.
    Hatte ich sie missverstanden? Hatte sie still um Hilfe gebeten, mich angefleht, nicht zu gehen
? Ich war froh, dass ich Sharon Falcone von dem kleinen Jungen in der 83  Henry Street erzählt hatte. Nach ein paar Nachforschungen würde ich nicht zögern, denselben Anruf für die Devold Kinder zu tätigen. Der Gedanke war so beunruhigend, dass ich mich dabei erwischte, wie ich Cynthia eine SMS schickte, in der ich mich für die Planänderung entschuldigte und ihr sagte, dass ich mich darauf freute, Sam zu nehmen, wenn sie in Santa Barbara sein würde.
    »Das ist jetzt das
dritte
Mal, dass dieser Typ vorbeigeht und zu uns reinglotzt«, sagte Hopper, der an meinem Kopf vorbei aus dem Fenster starrte.
    Ich drehte mich um und folgte seinem Blick. Es war
derselbe
Mann, der mir schon zuvor aufgefallen war – groß, dunkelhaarig, schwarze Lederjacke. Er stand auf der anderen Straßenseite, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ich ihn gesehen hatte.
    »Er hat mich vorhin beobachtet, als ich draußen war«, sagte ich.
    Plötzlich sprang Hopper von seinem Stuhl auf, rempelte eine Kellnerin an, die fast ihr mit Essen beladenes Tablett fallen ließ, und rannte nach draußen. Als er ihn kommen sah, hechtete der Mann hinter eine Ecke. Ich stand auf und folgte den beiden.

40
    Hopper war bereits auf halber Höhe des Häuserblocks, er rannte mitten auf der Straße. Ich holte ihn an der Ecke Lafayette ein.
    »Er ist gerade los«, brüllte er und zeigte auf ein Taxi, das in Richtung Houston Street beschleunigte. Hopper sprang zwischen die fahrenden Autos und versuchte, ein anderes Taxi anzuhalten. Ich rannte hinter dem davonfahrenden Taxi her.
    Weit vor mir an der Kreuzung schaltete die Ampel auf Gelb, der Taxifahrer wechselte auf die Mittelspur und gab Vollgas.
Er würde einfach durchbrettern – und das wär’s dann.
Doch plötzlich stieg der Fahrer auf die Bremse und kam vor der roten Ampel abrupt zum Stehen.
    Ich hatte nur wenige Sekunden.
Ich schlängelte mich zwischen den Autos hindurch und rannte zur Beifahrerseite des Taxis. Ich konnte den Mann sehen – eine dunkle Silhouette auf dem Rücksitz, der durch die Heckscheibe blickte – vermutlich wollte er nachsehen, ob Hopper hinter ihm war. Ich versuchte die Tür zu öffnen.
    Er wirbelte erschrocken herum. Der Schreck wich schnell einer kühlen Gelassenheit, als er merkte, dass die Türen verschlossen waren. Er kam mir irgendwie bekannt vor.
    »Wer sind Sie?«, schrie ich. »Was wollen Sie?«
    Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, als habe er keine Ahnung, wer ich war.
Hatte ich das falsche Taxi erwischt
? Das Auto fuhr langsam an und das Gesicht des Mannes verschwand im Schatten. Dann schaltete die Ampel auf Grün, und das Taxi schoss über die Houston Street. Die Autos hupten, als sie um mich herumkurvten.
    Gerade als das Taxi davonfuhr, war seine linke Hand kurz im Lichtschein zu sehen.
    Dem Mann fehlten drei Finger.

41
    Zurück im Gitane erzählte ich Hopper und Nora, was passiert war und dass ich mir sicher war, dass uns Theo Cordova beobachtet hatte.
    »Das ändert alles«, sagte ich. »Die Familie ist uns auf die Schliche gekommen. Wir müssen davon ausgehen, dass jeder unserer Schritte überwacht wird.«
    Sie nahmen es mit finsteren Mienen hin. Hopper warf fast im selben Augenblick ein paar zusammengeknüllte Scheine auf den Tisch und brach zu einer Verabredung auf, die er per SMS getroffen hatte. Nora und ich fuhren nach Hause. Sie ging schlafen, doch ich goss mir einen Macallan-Scotch ein und schlug
Theo Cordova
nach.
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