Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Zweifel, die in den folgenden Jahren immer stärker wurden. Als Nummer zwei zwölf war, wusste er, dass Papa einfach nicht ganz richtig im Kopf war. Seit dem Tod seiner Mutter stellte er Ingmars Ideen immer öfter infrage.
Aber er ging nie fort. Im Laufe der Jahre hatte er ein immer größeres Verantwortungsgefühl für seinen Vater und seinen Bruder entwickelt. Und außerdem waren Nummer eins und zwei ja Zwillinge. Das war ein Band, das man nicht so leicht durchtrennte.
Warum die Brüder so ungleich waren, war schwer zu sagen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Holger 2 – der, den es eigentlich gar nicht richtig gab – eine allgemeine Begabung hatte, die dem ersten völlig abging.
Deswegen ergab es sich ganz selbstverständlich, dass Nummer zwei während ihrer Schullaufbahn die schriftlichen und mündlichen Prüfungen ablegte und seinem Bruder das Autofahren beibrachte, nachdem er selbst den Führerschein gemacht hatte. Auch den Lkw-Führerschein. Großvaters Volvo F406 war der einzige nennenswerte Besitz der Brüder. Soll heißen: Holger 1 besaß ihn. Denn um etwas zu besitzen, musste man ja existieren.
Als ihr Vater weg war, spielte Nummer zwei mit dem Gedanken, zu den Behörden zu gehen und sie von seiner Existenz in Kenntnis zu setzen, um dann ein Studium zu beginnen. Und ein Mädchen zu finden, das er lieben konnte. Und mit dem er Liebe machen konnte. Wie sich das wohl anfühlte?
Aber als er genauer darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass das alles gar nicht so einfach war. Durfte er denn überhaupt das gute Abiturzeugnis nutzen? Gehörte das nicht seinem Bruder? Per definitionem hatte Holger 2 ja nicht mal eine Grundschulausbildung, oder?
Außerdem gab es dringlichere Fragen zu klären. Zum Beispiel, wie die Brüder das Geld verdienen sollten, um sich satt zu essen. Holger 1 gab es schließlich richtig, er hatte sowohl Pass als auch Führerschein und sollte sich daher wohl einen Job suchen können.
»Einen Job?«, sagte Nummer eins, als die Sache zur Sprache kam.
»Ja, eine Arbeit. Ist ja nicht ungewöhnlich, dass Leute im Alter von sechsundzwanzig Jahren so was haben.«
Holger 1 schlug vor, dass sich doch lieber Nummer zwei darum kümmern solle, im Namen von Nummer eins. Ungefähr so, wie sie es all die Jahre auch in der Schule gehandhabt hatten. Aber Nummer zwei meinte, jetzt, nachdem der König Papa erschlagen hatte, werde es Zeit, die Jugend hinter sich zu lassen. Holger 2 hatte nicht vor, die Arbeit für seinen Bruder zu tun – und ganz bestimmt auch nicht für Papa Ingmar.
»Das war nicht der König, das war Lenin«, sagte Holger 1 trotzig.
Nummer zwei meinte, es sei völlig egal, wer auf Ingmar gefallen sei, das hätte genauso gut Mahatma Gandhi sein können. Aber das war jetzt Geschichte. Jetzt wurde es Zeit, sich eine Zukunft aufzubauen. Gerne zusammen mit seinem lieben Bruder, doch nur, wenn Nummer eins versprach, alle Ideen von Staatsstreichen auf den Müll zu werfen. Nummer eins murmelte, dass er doch sowieso nie Ideen hatte.
Damit gab sich Holger 2 zufrieden und dachte in den nächsten Tagen darüber nach, wie der nächste Schritt in ihrem Leben aussehen könnte.
Am dringendsten war das Geld, das sie brauchten, um Essen auf den Tisch zu bringen.
Die Lösung sah so aus, dass sie den Tisch verkauften. Beziehungsweise gleich das ganze Haus.
Das Häuschen der Familie in der Nähe von Södertälje wechselte den Besitzer, und die Brüder zogen in den Laderaum ihres Volvo F406-Lkws.
Doch es war ein Häuschen, das sie da verkauft hatten, kein Schloss, und im Großen und Ganzen war es nicht in Schuss gehalten worden, seit Papa Ingmar irgendwann vor vierzig Jahren durchgedreht war. Der offizielle Besitzer Holger 1 bekam nur hundertfünfzigtausend Kronen für das elterliche Heim. Wenn die Brüder nichts unternahmen, würde dieses Geld bald wieder aufgebraucht sein.
Nummer eins fragte Nummer zwei, was seiner Meinung nach das oberste Viertel von Papas Statue wert sein könnte. Da holte Nummer zwei ein Stemmeisen und zertrümmerte das Ding nach allen Regeln der Kunst, damit dieses Thema ein für alle Mal vom Tisch war. Als er fertig war, versprach er, dass er auch die vierhundertachtundneunzig verbliebenen Exemplare des Kommunistischen Manifests auf Russisch verbrennen würde, aber vorher wollte er eine Runde spazieren gehen, denn er musste ein Weilchen alleine sein.
»Bitte denk nicht zu viel nach, während ich weg bin.«
* * * *
Aktiengesellschaft Holger & Holger? Konnte das wohl
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