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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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der gleichen Frage betreten und waren auf dem Weg in die Mitte zur gleichen Antwort gekommen: Ja.
    Als es schließlich keine weiteren Fotos mehr gab, hatte ich den Boden der Nicht-so-Guten-Stube, der Küche, eines Teils des Flurs und der Hälfte von Annies und Zachs Zimmer bedeckt. Nun holte ich die Fotos aus der Zeit hervor, nachdem ich in ihr Leben getreten war. Und auch die Schuhkiste mit Fotos aus meiner eigenen Kindheit: meine Mutter und ich beim Muschelnausgraben, mein Vater und ich auf einem Felsen, Arme verschränkt und das Fernglas um den Hals. Ich fing an, sie im Kinderzimmer auszulegen, machte weiter im Flur und kam in unser Schlafzimmer, wo der Pfad oben auf dem Bett endete, weil auf dem Boden kein Platz mehr war.
    Die ganze Zeit über empfand ich eine angenehme Distanz zu meinem gegenwärtigen Leben, ja sogar zum Leben der Menschen auf den Fotos – ich war vollkommen absorbiert von der Struktur meiner Kreation, den Puzzleteilen. Zwar war das alles ein bisschen verrückt, aber Verrücktheit schien mir im Moment vollkommen angebracht. Als ich schließlich fertig war, verdunkelte Nachtlicht das Zimmer.
    Anscheinend hatte ich mich dann schlafen gelegt, denn am nächsten Morgen wachte ich in einem Meer von Fotos auf, starrte Annie an, die einen Lachs hochhielt, der fast so groß war wie sie selbst. Fotos klebten an meinen Armen, meinen Händen, meiner Wange.
    Ich stieg aus dem Bett, ließ alles auf mich wirken. Ich weiß, dass sich das jetzt sehr merkwürdig anhört, aber mein Werk faszinierte mich. Es besaß Sinn und Struktur. Ich hatte das Gefühl, dass ich dabei war, etwas zu entdecken. Beim Weg in die Küche achtete ich darauf, die Ordnung auf dem Boden nicht zu stören, machte mir einen Kaffee und widmete mich meinen gegenwärtigen Pflichten: Callie, den Hühnern, den Kätzchen, dem Gemüse. Ich zwang mich, ein Toastbrot zu essen. Ich spielte mit den Kätzchen auf der Veranda und steckte sie wieder zurück in ihren Katzenkorb, damit sie schlafen konnten. Und dann wanderte ich durch mein Labyrinth. Und wanderte. Und wanderte. Callie sah mich mit unsäglich traurigen Augen durch die Terrassentür hindurch an, und ich schwöre, einmal schüttelte sie sogar den Kopf.
Was? Du kannst nicht mal einen schäbigen kleinen Spaziergang mit mir machen und wanderst hier den ganzen verfluchten Tag im Kreis herum? Und lässt mich nicht einmal rein? Was ist nur aus dir geworden?
    Aber ich konzentrierte mich unbeirrt auf meine Aufgabe, machte einen weiteren Schritt, betrachtete ein weiteres Foto. Sah Paige und Annie in zusammenpassenden Osterkleidern. Sah Joe schlafend. Ich wollte mich zu ihm legen, doch ich war nicht diejenige, die das Foto geschossen hatte. Es stammte aus der Zeit, bevor ich von Joes Existenz wusste. Als er Paige liebte und Paige ihn. Sie hatte ihn genug geliebt, um ihn friedlich schlafend im Bild festzuhalten, der Mund leicht geöffnet, die Haare an einer Seite plattgedrückt; er sah genauso aus wie an den Morgen, an denen ich ihn betrachtet und auch geliebt hatte.
    Und jetzt das hier: Annie, Zach, Joe und ich in genau demselben Bett, morgens, das Bett zerwühlt, unsere Haare zerwühlt. Joe hatte das Stativ aufgestellt und war zurück ins Bett gestiegen. Annie hatte ihn just in dem Moment mit dem Kissen attackiert, als der Auslöser klickte.
    Draußen riss plötzlich die Wolkendecke auf, und Regen prasselte auf den Kies nieder, trommelte auf die Veranda. Ich drehte gerade meine vierte Runde durchs Labyrinth und hatte bereits drei Nachrichten auf Paiges Mailbox hinterlassen, als jemand an die Haustür klopfte. Durch das Glas in der Tür sah ich Clem Silver, eine Hand in Schulterhöhe. Er stand vor meiner Tür. Clem Silver besuchte nie andere Leute, nicht einmal, wenn er eingeladen war. Aber jetzt, wo sich meine geistige und emotionale Gesundheit in Form von Fotostrecken offenbarte, die sich von einem Raum zum anderen schlängelten – jetzt war er hier, der Erste, der Zeuge davon wurde. Ich öffnete die Tür.
    Er hielt einen dieser durchsichtigen Stockschirme aus den siebziger Jahren in der Hand, klappte ihn zu und stellte ihn ab. »Ich habe es gehört«, sagte er. »Und … nun, es tut mir leid.«
    »Danke.«
    »Und ich habe Ihnen das hier mitgebracht.« Er hielt einen grünen Müllsack hoch. Ich zog die Tür ganz auf.
    »Ignorieren Sie die, ähm, Unordnung.«
    Er trat ein, doch da man nirgends gehen konnte, blieben wir nah beieinander im Flur hinter der Tür stehen. Er roch nach Zigaretten und

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