Die andere Seite des Glücks
ging immer noch nicht ans Telefon. Ich hinterließ eine Nachricht. Ich hinterließ vier Nachrichten in den nächsten vier Stunden. Die drei Anrufe an diesem Tag kamen von den wenigen Menschen, die noch mit mir sprachen: meine Mutter, Lizzie und Lucy – doch nicht einer von den Kindern. Ich erkannte die Nummern auf dem Display, nahm aber nicht ab, wollte das Telefon freihalten, falls die Kinder mich zu erreichen versuchten. Meine Mutter und Lizzie sagten, dass sie an mich dachten und ich sie anrufen sollte, falls mir nach Reden sei. Lucy hinterließ die Nachricht, dass sie am nächsten Tag nach der Arbeit zu mir kommen würde, und versprach, keine Fragen zu stellen.
Meine einzigen Pflichten waren Callie, die Hühner, Ding Eins und Ding Zwei zu füttern, den Hühnerstall und das Katzenklo sauber zu machen und Unkraut zu rupfen. Und das tat ich. Callie versuchte immer wieder, mich zu einem Spaziergang zu bewegen, stupste mich mit der Schnauze ans Bein, brachte mir die Leine oder legte den Kopf zur Seite und sah mich traurig an, was normalerweise meinen Widerstand brach. Doch ich hatte weder die Kraft dazu, noch wollte ich irgendeinem Menschen begegnen.
Ich ging durchs Haus, die schlafenden Kätzchen wie Babys in den Armen, und alles, was ich sah, bereitete mir einen stechenden Schmerz: Die Fotos der Kinder, ihre Spielsachen, ihre Kunstprojekte. Die Tonvase auf dem Bücherregal, die ich von Annie zum Muttertag bekommen hatte, mit dem abgefallenen Nudel-M von
Happy Mother’s Day
. Und erst jetzt, am Tag, an dem sie gegangen waren, las ich, was wirklich da stand:
Happy other’s day
–
Herzlichen Glückwunsch zum Tag der anderen
.
Der Kühlschrank sprang brummend an, die Uhr tickte, das Holzscheit im Kamin brach krachend auseinander. Ich saß auf dem Sofa und zappte mich stundenlang durchs Fernsehprogramm, bevor ich zufällig auf
TV Land
stieß, einen Fernsehkanal, der nur Serien aus den Sechzigern und Siebzigern zeigte. Ich sah mir
Drei Mädchen und drei Jungen
, die
Partridge Familie
und
Room 222
an. Diese Serien hatte ich nach dem Tod meines Vaters mit geradezu fanatischer Hingabe angesehen und mich gefragt, warum meine Mutter nicht so wie Shirley Partridge sein konnte, warum meine Eltern nicht noch mehr Kinder hatten, damit ich mit meinen Geschwistern auch eine Rockband gründen konnte.
Ich ließ Callie hinaus und überlegte, wieder Annie und Zach anzurufen, doch es war neun Uhr abends. Sie schliefen schon tief und fest in ihren neuen Zimmern. Es war ihr erster Tag ohne mich, und wir hatten kein einziges Mal miteinander gesprochen. Ich musste bis morgen früh warten. Ich ließ Callie wieder herein, und sie legte sich auf den Boden neben das Sofa. Ich schlief bei laufendem Fernseher ein –
Mr. Ed
– und wachte am Morgen mit
Bezaubernde Jeannie
auf.
Ich erfüllte die wenigen Pflichten, die ich hatte, überlegte kurz, das Haus sauberzumachen, aber wozu eigentlich? Der Tag lag schier endlos vor mir:
Room 222 , Gilligans Insel, Unser trautes Heim
und so weiter.
Ich versuchte wieder, die Kinder zu erreichen. Noch immer keine Antwort. Schließlich rief Paige an, um mich wissen zu lassen, dass das Flugzeug Verspätung hatte und sie gestern erst spät nachts nach Hause gekommen waren.
»Kann ich mit den Kindern sprechen?«, fragte ich.
»Ich weiß, dass es schwer für Sie ist. Aber das ist es für die Kinder auch.«
Im Hintergrund hörte ich Zach weinen: »Ich … will … meine … Mommy! Ich … will … meine … Mommy!«
»Ella, ich halte es für keine gute Idee, dass Sie in der jetzigen Situation mit ihnen sprechen. Geben Sie uns ein bisschen Zeit, uns aneinander zu gewöhnen. Die Kinder vermissen Sie, und mit Ihnen zu reden wird alles nur noch schlimmer machen.«
»Soll das ein Witz sein?«, sagte ich. »Lassen Sie mich mit Zach sprechen, ich kann ihn beruhigen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Paige. »Hören Sie, Ihr Verhalten vor Gericht war wirklich nobel und auch mutig. Doch jetzt bitte ich Sie, uns etwas Raum zu lassen.«
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Ich weiß, wer ich bin … Ich bin Annies und Zachs Mutter.« Und sie legte auf.
»Miststück!«, schrie ich durchs Telefon ins Leere, dann warf ich es an die Wand.
Doch das reichte nicht, um mich wieder abzuregen, ich fühlte mich wie eine Katze auf einem LSD -Trip. Was konnte ich nur tun? Zach weinte! Joes Stativ stand noch immer wie eine Gedenkstätte in der Ecke unserer Nicht-so-Guten-Stube. Ich packte das Stativ und rannte
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