Die andere Seite des Glücks
wusste aber auch, dass ich in gewisser Weise immer noch versuchte, die Geschichte von Joe und Paige zu verstehen – was für einen Einfluss sie auf die Beziehung von Joe und mir hatte, von Annie und Zach und mir … und Paige. Und ich suchte eine Antwort auf die Frage, was Joe an jenem Tag sah, als Paige sich umdrehte.
Ich zog einen Karton an der Papplasche durch den Flur bis in die Mitte unserer Nicht-so-Guten-Stube, nahm einen Stapel Fotos heraus und breitete sie um mich herum auf dem Boden aus. Zunächst stupsten Ding Eins und Ding Zwei sie mit ihren Pfötchen umher und tapsten darüber, aber dann wurden sie des Spiels müde und kuschelten sich zu Callie aufs Sofa.
Hier feierten Paige und Joe Weihnachten bei Marcella; Paige hatte große rote Christbaumkugeln an den Ohren hängen und Joe eine Schleife auf der Stirn kleben. Beide lachten. Das nächste Foto war von Joes und Paiges Hochzeit. Sie hatte nichts mit unserer gemein, bei der ich ein kurzes Sommerkleid mit Nackenband und einen Brautstrauß aus unseren Gartenwicken trug. Sie ähnelte eher meiner Hochzeit mit Henry, mit einem prachtvollen weißen Kleid – Paiges war hochgeschlossen und perlenbesetzt –, Brautjungfern, Trauzeugen, Blumenkindern, perfekten runden Bouquets, einem erschöpften und überwältigten Lächeln.
Ich fand auch Karten, von Hochzeitstagen, Geburtstagen, Valentinstagen, auf denen sie sich stets gegenseitig ihre nie endende Liebe und Bewunderung beteuerten.
Ich werde dich immer lieben
, als versuchten sie, jedwede böse Geister zu vertreiben, die irgendwo an der Peripherie auf der Lauer lagen.
Ich legte die Karten zu den Fotos – inklusive Nacktaufnahmen – auf den Boden und schob sie so lange umher, bis die zeitliche Abfolge stimmte.
Das ist ja so Fengshui von mir
, dachte ich. Als der Karton fast leer war, fiel mein Blick auf den rosa Rand eines Papiers, das in der Bodenfaltung steckte. Ich zog es heraus und hielt eine Art rosa Pass in der Hand, den ich für einen Spielpass von Annie gehalten hätte, wenn nicht die Worte
Enemy Alien
– Ausländer aus Feindesland – darauf gestempelt gewesen wären. Innen war ein Foto von Großvater Sergio mit etwa Mitte vierzig, und mit der Schreibmaschine getippt:
Sergio Giuseppe Capozzi
, seine Adresse in Elbow – dieselbe wie unsere –, sein Geburtsdatum, 1 . August 1901 . Und seine Fingerabdrücke.
Die Worte trafen mich härter als alles, was ich bislang bruchstückhaft über sein Schicksal erfahren hatte. Die Angst, die Paranoia. Feind? Ausländer? Großvater Sergio? Er hatte dieses Land geliebt, einen kleinen Laden besessen. Er hatte dieses Cottage gebaut … und trotzdem wurde seine Familie auseinandergerissen, wie Marcella mir entgegengeschleudert hatte. Und mit einem Mal wurde mir klar, wie schnell sich in Zeiten des Krieges Paranoia ausbreitete. Ich wusste, dass meine eigene Angst vor Paige – die Angst der ganzen Familie vor Paige – auch nicht gerade angemessen war. Trotzdem war genau das passiert, wovor wir uns alle am meisten gefürchtet hatten, und mein Versuch, fair zu sein, hatte uns die jetzige Situation beschert.
Ich legte den rosa Pass zu den Fotos von Sergio und Rosemary vor ihrem neuen Haus, das jetzt unser altes Haus war, und fühlte mich auf eine Weise mit ihnen verbunden wie nie zuvor. Auch ihre Familie hatte dieses Haus mit Leben gefüllt – mit Gelächter und Streitereien. Rosemary war durch diese Zimmer gelaufen, wo Sergio überall fehlte. Auch sie hatte erfahren, wie Leere sich immer mehr ausbreitete und gegen Wände drückte, Decken und Böden.
Ich holte einen weiteren Karton ins Zimmer, den mit Paiges Morgenmantel, wie sich schnell herausstellte. Der Morgenmantel, mit dem Joe ihr Geheimnis bedeckt hatte. Der Morgenmantel, in dem sie sich in den Monaten ihrer Depression versteckt hatte. Ich zog ihn an, über meine Kleider, und ich muss beschämt gestehen, dass ich in ihm ein notwendiges Teil des Puzzles sah. Ich leerte noch mehr Kartons, bis der ganze Wohnzimmerboden bedeckt war, machte dann in der Küche weiter, im Flur. Ich hinterließ verschlungene Pfade, die spiralförmig von der Mitte des Zimmers ausgingen, ähnlich dem Labyrinth der Grace Cathedral in San Francisco, durch das Joe und ich an unserem ersten gemeinsamen Neujahrstag gegangen waren. Wir waren schweigend gelaufen, jeder mit einer Frage im Kopf. Am Ende standen wir in der Mitte, und Joe fragte mich, ob ich ihn heiraten wollte. Wie sich dann herausstellte, hatten wir beide das Labyrinth mit
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