Die andere Seite des Glücks
Telefonnummer in mein Handy. Wie immer nahm Paige nicht ab, und so hinterließ ich die Nachricht, ich sei in der Stadt. Diesmal rief sie mich sofort zurück.
»Sie sind in Las Vegas?«, fragte sie.
»Japp.« Ich versuchte mich locker, ja sogar heiter zu geben. »Nette Werbewand.«
»Oh, das – die Fläche hab ich für einen guten Preis bekommen. Ich hab schon eine Menge Anrufe deswegen gekriegt.«
Ich verkniff mir ein
jede Wette
.
»Warum sind Sie hier?«
»Also nicht, um ins Casino zu gehen. Ich möchte die Kinder sehen.«
»Ella. Das ist rücksichtslos gegenüber Annie und Zach, für die das alles eine riesige Umstellung ist. Der Richter wusste genau, was er tat, als er Ihren ersten Besuch auf vier Wochen nach der Trennung festlegte. Sie leben nicht hier. Warum wollen Sie sie jetzt so verwirren?«
»Muss ich Sie daran erinnern, dass der Richter kurz davor war, eine ganz and–«
»Nein, das müssen Sie nicht. Hören Sie, Ella, ich bitte Sie um nichts anderes als Zeit. Und ich glaube, Sie brauchen auch Zeit, um sich in einem Leben ohne Annie und Zach einzurichten.«
»Aber Sie schließen mich aus! Sehen Sie denn nicht, dass Sie das Gleiche tun, was Joe Ihnen angetan hat?«
»Ich denke in erster Linie an die Kinder.«
»Und warum haben Sie sie mir dann weggenommen? Wir waren glücklich …« Meine Stimme versagte, aber ich riss mich zusammen, würde Paige nicht ins Ohr heulen. Außerdem fuhr ich Auto und hatte einen Sattelschlepper im Nacken.
»Gehen Sie nach Hause, Ella. Warten Sie einen Monat, dann rufen Sie uns an.«
»Wer sagt denn, dass ich nicht zu Hause bin?«, kam es aus mir heraus.
Sie seufzte. »Sie haben also eben gelogen, als Sie sagten, dass Sie hier sind?«
»Nein. Aber vielleicht bin ich ja hergezogen.« Habe ich das wirklich gerade gesagt?
Schweigen.
»Paige? Können Sie mich hören?«
»Ja.«
»Und, kann ich die Kinder jetzt sehen?«
»Sie können sie in zweiundzwanzig Tagen sehen, wie vom Richter festgelegt. Auf Wiedersehen, Ella.« Sie legte auf, bevor ich etwas erwidern konnte.
Das war ja echt prima gelaufen. Ich fuhr von der Schnellstraße ab und machte an einem kleinen Lebensmittelladen halt, um mir eine
Las Vegas Sun
zu holen. Auch die Packung Eiscreme musste sein, die ich mangels Gefrierfach in meiner Absteige auf einmal essen würde – meine Version eines gefährlichen Lebens in Las Vegas.
Auf dem Weg zur Kasse fiel mein Blick auf gelbe Notizbücher. Sie waren größer als die, die ich vor dem Tod meines Vaters immer mit mir herumgetragen hatte, aber sonst sahen sie genauso aus, mit Spiralbindung am oberen Rand. Als ich in den leeren Seiten blätterte, musste ich an das wissbegierige kleine Mädchen mit dem Fernglas um den Hals denken, das immerzu
wer, was
oder
warum
gefragt hatte. Nach jahrzehntelangem Schlaf war es vor ein paar Wochen endlich wieder aufgewacht und hatte gleich für Unruhe gesorgt und auch schlimmen Schaden angerichtet. Aber verdammt nochmal, ich liebte dieses Kind. Es war ein gutes Kind, das mir schon einiges beigebracht hatte. Und es brauchte ein Notizbuch.
Obwohl ich Las Vegas furchtbar fand, hatte ich Paige erzählt, ich sei hierhergezogen – wobei ich v
orübergehend
allerdings unterschlug. Ich hasste die Vorstellung, dass Annie und Zach in einer Stadt aufwachsen sollten, die für ihre Spielcasinos, für Drogen und Prostitution bekannt war. Doch noch schlimmer als das war der Gedanke, sie würden hier ohne mich groß werden – oder ich würde ohne sie nach Elbow zurückkehren. Nach meinem ersten Telefongespräch mit Paige zu urteilen, würde sich hier so schnell nichts bewegen. Ich hatte drei Möglichkeiten, von denen mir keine einzige gefiel. Aber ein Ort war nur ein Ort, und dass Elbow mir fehlen würde, damit konnte ich leben. Jedenfalls vorübergehend. Ich schlug den Anzeigenteil der Zeitung auf und fing mit der Wohnungssuche an, schrieb Adressen in mein Notizbuch. Ich musste die Zeit totschlagen und wollte, dass Annie und Zach sich zu Hause fühlten, wenn sie mich besuchten, und nicht mit ihnen in einem billigen Motel auf einem Bett hocken.
Ich ging jeden Tag stundenlang mit Callie spazieren, sah mir verschiedene Stadtteile an, in denen ich vielleicht eine Wohnung finden würde, und verweilte auf jedem Stück Grün in den neuen, gepflegten kleinen Parkanlagen. Der Wind blies Staub und Schmutz umher und rollende Buschkugeln, die mit Pappbechern, Zigarettenschachteln und Plastiktüten gespickt waren. Die Sonne brannte auf uns hinab, so
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