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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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den Angeln gerissene Hühnerstalltür, den Zaunpfosten, der schon vor Monaten bei einem Sturm umgeknickt war. Jemand wechselte das Öl vom Pick-up. Wer hatte ihn aus Bodega Bay hierhergefahren? Wer hatte Joes Jacke zurück an den Haken gehängt, die Decke zurück auf unser Bett gelegt, und wann? Die Rückkehr zur Normalität hatte begonnen. Das Haus roch wie ein italienisches Restaurant. Wie konnte jetzt jemand an Essen denken? David, der Schriftsteller in der Familie und gleichzeitig ein hervorragender Koch, saß im Garten auf der Bank, die er uns zur Hochzeit geschenkt hatte, und arbeitete an der Trauerrede. Gleichzeitig standen einige seiner kulinarischen Köstlichkeiten auf dem Tisch. Alle schienen etwas Konstruktives zu tun – alle außer mir. Immer wieder sagte ich mir, ich muss stark sein für die Kinder, doch ich fühlte mich nicht stark.
    Meine Mutter, die aus Seattle eingetroffen war, kümmerte sich hingebungsvoll um Zach und buddelte mit ihm und seinem Konvoi aus Tonka-Traktoren und Action-Figuren in der Erde. Joes Mutter und Annie beschäftigten sich mit Saubermachen, was sie nur unterbrachen, um sich gegenseitig die Tränen wegzuwischen, um dann wieder alles zu wienern, was sie finden konnten. Ich selbst wanderte zwischen Annie und Zach hin und her, zog sie auf meinen Schoß, um sie zu drücken oder einen Seufzer auszustoßen, bis sie sich losmachten und ihre jeweilige Beschäftigung wieder aufnahmen.
    Marcella sang beim Putzen. Marcella sang immer, sie war stolz auf ihre Stimme, und ganz zu Recht. Doch sie sang niemals Lieder von Sinatra oder anderen Musikern ihrer eigenen Generation; sie sang Lieder aus der Generation ihrer Kinder. Sie liebte Madonna, Prince, Michael Jackson, Cyndi Lauper – welchen 80 er-Jahre-Song man auch nannte, sie konnte ihn singen. Joe und David hatten mir erzählt, dass sie als Teenager in ihrem Zimmer manchmal laute Musik gehört hatten und Marcella dann von unten aus der Küche rief: »
Kinder! Macht den Mist lauter!
«
    Während sie jetzt die schmutzigen Fugen der Küchenfliesen mit der Zahnbürste schrubbte, stimmte sie mit einer schmerzvollen Sopranstimme »
Like a virgin … for the very first time
« an. Ein seltsames, hartes Lachen entschlüpfte meinem Mund, und sie sah mich betroffen an. »Was ist, Liebes? Alles in Ordnung?« Ich bin sicher, sie wollte keine Kritik an meiner Haushaltsführung üben, und sie war so in ihre Trauer versunken, dass sie nicht merkte, was sie da sang. Joe hätte das lustig gefunden, und an einem anderen Tag – in einer anderen Zeitebene – hätten wir sie auf den Text aufmerksam gemacht, gelacht und sie aufgezogen. Woraufhin sie ihr ausladendes Hinterteil hin- und herschwenkend geantwortet hätte: »Ach ja? Und wie findet ihr das:
The kid is not my son …
« Aber jetzt suchte sie in meinem Gesicht nach weiteren Anzeichen vom Kummer verursachten Wahnsinns, der hinter meinem schrillen Lachen stecken könnte. Ich schüttelte den Kopf, gab ihr abwinkend zu verstehen, sie solle es gut sein lassen. Marcella kam zu mir, umfasste mein Gesicht mit ihren dicken Händen. »Ich danke Gott, dass meine Enkel dich als Mutter haben. Jeden Tag danke ich Gott für dich, Ella Beene.« Ich schlang die Arme um ihren gewaltigen Körper.
    »Setz dich doch hin«, sagte ich und griff nach dem Putzmittel in ihrer Hand. »Ruh dich aus. Ich mache dir einen Kaffee.«
    Doch sie zog die Hand zurück. »Nein. Ich brauche das. Ich kann nicht anders. Ausruhen macht für mich alles noch schlimmer.«
    Ich nickte, drückte sie noch einmal. »Natürlich.« Marcella glaubte seit jeher an die Klarheit von Fensterputzmitteln.

    Am nächsten Morgen nahm ich mein schwarzes Kleid aus der Plastikhülle der Reinigung, hob die Arme und spürte das kühle Futter über meinen Kopf gleiten. Ich überlegte, stattdessen die Plastikfolie überzustreifen und zu warten, bis sie sich fest um Mund und Nase schloss, um mich neben Joe in die dunkle Grube legen zu lassen. Doch der Gedanke an die Kinder half mir, die Füße in die schwarzen Slingpumps zu stecken, die Lucy, meine beste Freundin, mir gekauft hatte – »Du kannst auf eine Beerdigung keine Birkenstocks anziehen, Bella, nicht einmal in Nordkalifornien« –, und die beiden Tropfenohrringe aus Silber und Aquamarin zu finden, die Joe mir an unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte.
    In der Kirche sprachen sechsunddreißig Leute. Wir weinten, aber wir lachten auch. Die meisten Geschichten stammten aus der Zeit vor mir.

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