Die andere Seite des Glücks
Dir kann sie jedenfalls nicht das Wasser reichen.« Nur eine Mutter konnte so etwas sagen.
»Unsicher? Also ich fand sie sehr … souverän.«
Meine Mutter winkte ab. »Es war bestimmt nicht leicht, hier einfach so aufzutauchen … Aber Menschen müssen gewisse Dinge tun, um sich gut zu fühlen, deshalb verstehe ich, dass sie gekommen ist. Was glaubst du wohl, wer alles auf der Beerdigung deines Vaters war!«
Sie erwähnte Dad fast nie. »Wirklich? Wer denn zum Beispiel?«
»Ach, was weiß ich. Ist lange her, ich hab’s vergessen, Jelly.«
Tür zu. Weiterbohren zwecklos. »Aber was will Paige? Ich mache mir Sorgen wegen der Kinder.«
»Du bist seit drei Jahren ihre Mutter. Alle wissen das, Paige auch. Und wo Joe jetzt tot ist, bist du die einzige elterliche Konstante in ihrem Leben.«
»Und wenn sie zurückkommt?«
Meine Mutter nippte an ihrem Kaffee, stellte die Tasse mit der Aufschrift FOTOGRAFEN TUN ES IN DER DUNKELKAMMER ab – ein Geschenk, das die unbedarfte Annie unbedingt für Joe kaufen wollte. »Ich bezweifle, dass Paige jetzt irgendwelche Ansprüche stellen wird. Nach drei Jahren, in denen sie nichts unternommen hat. Und wenn doch? Jeder kann sehen, dass du ihre wirkliche Mom bist.« Sie nahm meine Hand und drückte sie lange und fest. »Wie müssen ein paar Dinge bereden«, sagte sie. »Ich weiß, dir ist jetzt nicht danach zumute …«
»Mir ist nach gar nichts zumute.«
»Das verstehe ich. Aber ich kann dir mit dem Papierkram helfen und bin nur noch ein paar Tage hier.« Sie sagte, wir müssten uns die Lebensversicherungspolice ansehen, bei der Sozialversicherung anrufen und eine Sterbeurkunde ausstellen lassen. Sie setzte sich gerade, strich den Morgenmantel über ihrem Schoß glatt. »Jelly, ich kann für dich anrufen, aber dann werden sie alle mit dir reden wollen … okay?«
Nein, es war nicht okay, aber ich nickte trotzdem.
Sie tätschelte mein Knie und stand auf. »So kommst du auf andere Gedanken und vergisst diese Paige.«
5. Kapitel
Marcella kam vorbei, um auf die Kinder aufzupassen, so dass meine Mutter und ich nach Santa Rosa fahren und uns um die Sterbeformalitäten kümmern konnten. Auf der Rückfahrt fuhr meine Mutter, und ich starrte durchs Autofenster die Leute auf der Straße an – wie sie auf dem Bürgersteig gingen, aus einem Haus kamen, einem Auto entstiegen, Münzen in eine Parkuhr warfen, lachten. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass Joe und ich vor kurzem die Aufstockung seiner alten Lebensversicherung in die Wege geleitet hatten. Wobei in die Wege geleitet bedeutete, dass er mit dem Versicherungsagenten von Franks Vater gesprochen, ich aber noch nichts weiter gehört hatte. Die alte Police war meines Wissens um die fünfzigtausend Dollar wert, womit ich etwas Zeit hätte, mir einen Plan zu überlegen. Aber eben nur etwas Zeit, weshalb sich meine Mutter bestimmt Sorgen machen würde.
Damals in San Diego hatte ich in einem Labor gearbeitet, dem wir den Spitznamen »Vorhaut der Biotechnologie« gegeben hatten. Doch ich hielt nicht lange durch und gab mir auch keine besondere Mühe, denn ich hatte schon am ersten Arbeitstag gemerkt, dass Laborarbeit nichts für mich war. Ich hatte als Kind
Harriet, die kleine Detektivin
gelesen und beschlossen, später einmal Detektivin oder mindestens Ermittlerin zu werden. Ich war mit dem Fernglas meines Vaters um den Hals und einem gelben Spiralblock in der Gesäßtasche umhergestreift, hatte unserem Briefträger nachspioniert, unseren Nachbarn und unseren Hausgästen. Ich hatte sie in meinem Notizbuch beschrieben, genau wie mein Vater, wenn er Vögel beobachtete. Aber mit dem Tod meines Vaters starb auch meine Neugier auf die Menschen. Sie waren zu komplex, um mit ein paar eilig hingekritzelten Notizen ausreichend beschrieben zu werden, und auch schwer einschätzbar und zu verwirrend in ihrem Verhalten. Und so hatte ich mich der Welt der Pflanzen und Tiere zugewandt, in die mein Vater mich vor seinem Tod eingeführt hatte, und später einen Abschluss in Biologie gemacht. Doch dann traf ich eine falsche Entscheidung und landete in besagtem Biotech-Labor, wo ich unterm Mikroskop Zellen anstarrte, anstatt durch Felder, Wälder und Tümpel zu streifen.
Zwar würde ich nun bald den Halbtagsjob als Naturführerin anfangen, aber das reichte nicht, um uns drei zu ernähren und den Laden weiterzuführen. Und Capozzi’s Market war das Vermächtnis von Großvater Sergio, Joe senior und Joe.
Mit dem Laden hatte Sergio einen Ort schaffen
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