Die andere Seite des Glücks
alle ihre Kleider mitgenommen, bis auf den Morgenrock, den sie die Zeit davor praktisch nicht mehr ausgezogen hatte.«
Er sagte, Paige sei depressiv gewesen, und zwar in einem Ausmaß, dass sie sich am Ende weder geduscht noch ihre Kleider gewechselt hatte. Sie war zu ihrer Tante gezogen, die in einer Wohnwagensiedlung außerhalb von Las Vegas wohnte, so dass er wenigstens wusste, dass sich jemand um sie kümmerte. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass jemand die natürliche Schönheit von Elbow, das gemütliche Haus und nicht zuletzt Joe, Annie und Zach verließ, um in einer Wohnwagensiedlung in der Wüste zu leben. Aber sie wollte ihn weder sehen noch mit ihm reden und hatte ihm nur einen Brief hinterlassen.
»Sie hat geschrieben, dass es ihr leidtue, aber sie tauge nicht zur Mutter. Dass es den Kindern ohne sie besserginge. Sie wisse, dass ich das schaffe, weil ich in jeder Beziehung der geborene Vater sei und sie in keiner Beziehung eine Mutter. Und dass meine Familie mir helfen würde … bla bla bla.«
»Das ist wirklich eine Ironie des Schicksals«, hatte ich erwidert. Die Überlegung, mein eigenes Versagen für mich zu behalten, hatte ich kurzerhand verworfen, zumal ich sowieso schon alle Dating-Regeln gebrochen hatte. »Ich wollte Kinder, aber konnte keine bekommen. Ich war auch depressiv und apathisch … Mein Exmann könnte dir die gleichen Geschichten über mich erzählen, dass ich drei Tage dieselben Kleider anhatte und vergessen habe zu baden.«
Ich erzählte ihm von den fünf Kindern, die es nicht lebend auf die Welt geschafft hatten. Wir drückten uns noch fester aneinander, als könnte unsere Umarmung als Gipsverband dienen, um alles, was in uns zerbrochen war, wieder zu heilen.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war meine Mutter, die auf dem Sofa geschlafen und bereits den Kaminofen angemacht hatte, gerade dabei, das Frühstück zuzubereiten, Kaffee, Haferbrei, Eier und Toast. Sie stand in Morgenrock und Mokassins in meiner Küche, eine ältere Version von mir – groß, schlank, ein bisschen wie ein Hippie –, nur dass ihr Zopf graumeliert war. Ich hatte die roten Haare von meinem Vater geerbt. Sie breitete die Arme mit den klimpernden Silberreifen aus und drückte mich an sich. Weil ihr Mann – mein Vater – starb, als ich acht war, hatte auch sie so etwas schon einmal durchgemacht, sie wusste, wie das war, wenn auch manche Dinge nicht ausgesprochen werden konnten. Ich liebte meine Mutter, aber wir hatten nie so eine Mutter-Tochter-Beziehung wie manche meiner Freundinnen. Ich hatte nie geschrien, dass ich sie hasste, wir hatten nie die Trennung vollzogen, die notwendig war, um die eigene Individualität zu behaupten. Tatsache ist, dass der Schatten meines toten Vaters immer zwischen uns stand, was dazu führte, dass wir stets freundlich und ein wenig distanziert miteinander umgingen. Trotzdem liebte ich meine Mutter, bewunderte sie. Und irgendwie wünschte ich auch, ich wäre damals leidenschaftlicher und so mutig gewesen, ihr all meine Wut und Teenager-Angst zu zeigen. Stattdessen hatte ich ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt und die Tür meines Zimmers hinter mir geschlossen, um meine Biologiehausaufgaben zu erledigen.
Ich schenkte mir einen Kaffee ein und füllte die Tasse meiner Mutter auf. Der Nebel hatte sich seit letzter Nacht kein bisschen gelichtet; ein kalter grauer Schleier umwob die Bäume, als wolle er sie vor der Kälte schützen, die er doch selbst verursachte. Im Gegensatz dazu funkelte das Haus förmlich. Da ich die hausfraulichen Defizite von meiner Mutter geerbt hatte, war sie wohl kaum an dem Hausputz beteiligt gewesen. Noch gestern Abend hatte Joes Mutter auf ihren arthritischen Knien rutschend den Holzboden gewischt, das ganze Geschirr abgewaschen, den Komposteimer geleert und den Plastikmüll in die Recyclingtonne geworfen. An die Beerdigung erinnerten jetzt nur noch der volle Kühlschrank, die Beileidskarten von alten Freunden und die vielen Calla-Lilien, Iris, Lisianthus und Orchideen auf den Unterschränken und der alten Truhe, die wir als Couchtisch benutzten.
Als ich mit meiner Mutter beim Kamin saß und Kaffee trank, fragte ich so beiläufig wie möglich, was sie von Paige hielt. Sie zuckte die Schultern, antwortete zögernd. »Ein bisschen … ich weiß nicht … Sie erinnert mich ein bisschen an Barbie. Und sie kam mir furchtbar angespannt vor, aber vielleicht war das nur ihre Unsicherheit. Ihre Knöchel sind ein bisschen dick, findest du nicht?
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