Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
Vom Netzwerk:
Formulare gebeugt, nur für den Fall, dass … irgendwann … Hatte er dabei über seinen Tod nachgedacht? Wie er sterben würde? Oder wann? Oder wie wir drei es schaffen sollten, am nächsten und übernächsten Tag ohne ihn aufzustehen?
    Ich zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und trocknete damit die Träne, die auf das Formular gefallen war, dann drückte ich es auf die Augen, als könnte ich die Tränen zurück in ihre Drüsen schieben. In gewisser Weise war es schwerer, hier im Laden zu sein als zu Hause. Hatte ich das Büro jemals ohne ihn betreten? Er hatte als Letzter auf diesem Stuhl gesessen, als Letzter seine rauen Ellbogen auf diesen Schreibtisch gestützt, unsere Telefonnummer in dieses Telefon getippt, in diesen Hörer gesprochen und gesagt: »Hi, ich komme jetzt nach Hause, Milch und Erdnussbutter bring ich mit. Sonst noch was?«
    Meine Mutter wartete bestimmt schon. Ich nahm die Versicherungsunterlagen und ein dickes Bündel ungeöffnete Briefe, die im Hefter mit der Aufschrift »Unerledigt« lagen.
    Ich hatte mich nie mit den Rechnungen befasst. Als ich bei ihm einzog, gab es bereits ein funktionierendes Ordnungssystem; außerdem war ich chaotisch, was Papierkram betraf. Meine Mutter würde bestimmt sagen, dies wäre eine gute Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und den Papierkram zu bejahen. Eine gute Gelegenheit, mit der Heulerei aufzuhören und nach Hause zu Annie und Zach zu fahren.
    Ich ging die Treppe hinunter, winkte und dankte Gina. Sie nickte. Die Augen hinter der Nickelbrille waren noch immer ein wenig geschwollen. Gina war erst vor kurzem aus dem Orden der Barmherzigen Schwestern ausgetreten und nach Elbow zurückgekehrt. Mit zweiunddreißig Jahren hatte sie beschlossen, keine Nonne mehr zu sein, hatte aber noch immer Mühe, mit der Entscheidung klarzukommen. Joe und ich nannten sie heimlich seine Ex-Nonnen-Cousine.
    Als ich meiner Mutter die Tür aufhielt, wurde mir bewusst, dass seit unserer Ankunft kein einziger Kunde in den Laden gekommen war, und das zur Mittagszeit. Ich hatte zwar mitbekommen, dass die Geschäfte schleppend gingen, aber dass es
so
schlimm war …
    »Hast du sie gefunden?«, fragte meine Mutter, als sie den Jeep rückwärts ausparkte.
    Ich nickte. Schon nach wenigen Minuten fuhren wir die Kieseinfahrt zu unserem Haus hoch und wurden von Callie empfangen. Auf meinem Platz stand ein Ford Fiesta, bei dessen Anblick meine Mom und ich uns mit hochgezogenen Augenbrauen ansahen. Wir hatten beide keine Lust auf Gesellschaft, doch die Leute meinten es nur gut.
    Die Schuhe der Kinder standen ordentlich aufgereiht neben der Haustür.
Wie aufmerksam von ihnen
, dachte ich und hob Annies knöchelhohen rosa Turnschuh hoch. Er war nicht einmal dreckig. Das hatten sie bestimmt bei Lizzie gelernt, die vermutlich zu den Frauen gehörte, die ein handgemaltes Schild mit DANKE FÜRS SCHUHAUSZIEHEN im Flur hängen hatten. Allerdings war ich nur wenige Male bei ihr gewesen, und das vor langer Zeit, und erinnerte mich nicht mehr, ob man die Schuhe ausziehen musste oder nicht. Zudem hatte ich nichts dagegen, wenn ein bisschen weniger Dreck ins Haus geschleppt würde. Doch auf der anderen Seite des Regenschirms standen Lederpumps von Kenneth Cole. Ich hatte Marcella noch nie in Schuhen mit höheren Absätzen als drei Zentimetern gesehen. Ich zog die Gittertür auf und rief so fröhlich ich konnte: »Banannie, Zachosaurus, ich bin zu Hause!« Niemand kam angerannt, um mich zu begrüßen. Niemand schrie
Hallo, Mommy
.
    Ich trat ein, legte die Aktenmappe und Briefe auf den Tisch und blickte durchs Fenster, falls sie im Garten spielten und ich es nicht mitbekommen hatte. In dem Moment hörte ich Annie in ihrem Zimmer kichern, lief den Flur entlang und öffnete die Tür. Sie und Zach saßen in unserem Schaukelstuhl auf Paiges Schoß. Zach pinselte sich mit einer Strähne ihrer seidigen Haare über die Wange. Paiges Arme umschlossen die beiden wie ein runder Zaun, mit dem offenen Buch in ihren Händen als Tor. Es war ein Buch aus der Kiste im Schrank, von P. D. Eastman. Der Titel sprang mich geradezu an:
Bist du meine Mutter?

6. Kapitel
    »Ich habe mein Flugzeug verpasst«, sagte sie, schloss das Buch und hielt es mit der Vorderseite nach unten. »Marcella müsste jeden Moment zurückkommen, sie ist kurz weggefahren, um nach Tante Sophia zu sehen.«
    Ich nickte, hörte nicht auf zu nicken. Mein Körper zitterte so sehr, dass eines meiner Knie nachgab. Eine Krähe schrie ihr
Kra Kra Kra
in der

Weitere Kostenlose Bücher