Die andere Seite des Glücks
heiratet, die nicht aus Italien stammt.«
»He«, sagte ich, »ich bin auch nicht aus Italien.«
»Liebes, so wie du kochst und gärtnerst und die Kinder mit Liebe überhäufst, bist du Italienerin ehrenhalber. Was genauso gut ist. Na ja, fast.« Den Blick weiter auf mich geheftet, brach er ein Stück seines Brots ab und steckte es in den Mund. Dann streckte er den Arm aus und legte seine raue, schwielige Hand sanft auf meine.
Nachdem Joe senior und Marcella gegangen waren, brachte ich die Kinder ins Bett und sagte meiner Mutter, dass ich noch etwas im Laden nachsehen müsse. Der Parkplatz vor dem Laden war immer noch gut gefüllt mit den Autos von Besuchern der beiden Restaurants im Ort. Da ich weder gesehen werden noch mit jemandem reden wollte, ging ich hinten herum ins Haus und stieg die Treppe hoch. Erst dann knipste ich das Licht an.
Ich zog die Schreibtischschubladen auf und zu, fuhr mit dem Finger über die Worte auf der Unterseite, die Joe und David mit neun und sieben Jahren dort eingeritzt hatten, als es noch der Schreibtisch ihres Vaters war und sie abends gelangweilt darauf warteten, dass er das Gespräch mit dem Kunden beendete und den Laden zuschloss, um mit ihnen nach Hause zu fahren. Joe hatte mir einmal die Worte im Schein seiner Stiftlampe gezeigt und lachend die Geschichte dazu erzählt: Wie er mit seinem Taschenmesser – einem Weihnachtsgeschenk seiner Eltern, das David sich gewünscht, aber nicht gekriegt hatte, weil er noch zu jung war –
Joey’s Market
eingeritzt hatte, doch zwei Tage später David das Messer in die Hände bekam,
Joey’s
durchritzte und
Davy’s
ins Holz schrieb. Und so ging es viele Male hin und her, was eine unregelmäßige Spalte belegte, bis sie dann wegen etwas anderem stritten und es vergaßen. Wäre Beharrlichkeit der Indikator für den zukünftigen Besitzer von Capozzi’s Market gewesen, hätte David ihn bekommen, denn sein Name bildete den – unbeschadeten – Schluss.
Anfangs hatte ich das Gefühl, die Geschäftsbücher wären auf Russisch geschrieben, doch irgendwann war sonnenklar, was ich da vor mir sah, und zwar in jeder Sprache: Die finanzielle Situation des Ladens war wesentlich schlimmer, als ich befürchtet hatte, denn es gab nicht nur die unbezahlten Rechnungen der letzten Zeit. Wieso hatte ich das nicht gewusst? Joe hatte kurz vor unserer Hochzeit Geld rausgezogen und umgeschuldet. Der Laden war hochverschuldet, und die letzten Monate waren die schlimmsten gewesen. Kein Wunder, dass er die Papiere nicht weggeschickt hatte, um die Lebensversicherung aufstocken zu lassen.
Ich wusste, dass es Engpässe gab, das hatte Joe mir erzählt. Aber das ganze furchtbare Ausmaß war mir nicht klar gewesen, nämlich dass die Schulden täglich größer wurden, und zwar seit längerer Zeit. Seinen Eltern hatte er offensichtlich nichts davon erzählt – aber vielleicht seinem besten Freund.
Ich wählte Franks und Lizzies Nummer und hoffte, dass nicht Lizzie abnehmen würde. Doch natürlich war sie dran, und noch bevor ich mit meiner Entschuldigung fertig war, reichte sie den Hörer an Frank weiter. Frank murmelte ein Hallo.
»Hast du davon gewusst?«
»Ella? Weißt du, wie spät es ist –«
»Hast du es gewusst? Das mit dem Laden?«
»Wo bist du?«
»Hier. Im Laden.«
»Ich komme hin. In ein paar Minuten bin ich da.«
Ich machte Kaffee. Die Digitalziffern der Kaffeemaschine zeigten drei Uhr an; und ich hatte geglaubt, es wäre erst zehn oder höchstens elf. Ich versuchte, mich an Franks Reaktion zu erinnern, als ich ihm gesagt hatte, dass ich den Laden behalten wollte. Er war nicht begeistert gewesen, aber ich dachte, er könne sich bloß den Laden ohne Joe nicht vorstellen. Und dann hatte er schnell das Thema gewechselt und gefragt, ob Annie sich auf die Schule freue, und erzählt, dass Molly schon eine Pocahontas-Brotdose ausgesucht hatte.
Ich schloss die Ladentür auf und ließ Frank herein. Er trug ein
New York Giants
-Sweatshirt, Jeans und UGG -Boots. Ich goss auch ihm eine Tasse Kaffee ein.
Meine Zähne klapperten, obwohl mir nicht kalt war. »Sag es mir«, begann ich. »Hast du davon gewusst?«
»Von welchem Davon sprichst du?«
»Wie viele Davons gibt es denn?« Meine Stimme zitterte, während ich mich bemühte, nicht laut zu werden, nicht zu schreien.
»Bitte, Ella, mach mal langsam. Du hast jedes Recht der Welt, durch den Wind zu sein, aber worum geht es jetzt genau?«
Ich atmete tief durch. »Den Laden, Frank. Die Tatsache, dass er
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