Die andere Seite des Glücks
ich herausgefunden hatte. Und über meine Situation insgesamt hatte ich mir nicht einmal ansatzweise Gedanken gemacht. Denn während sie bei bestimmten Dingen absolut stoisch reagierte, wie zum Beispiel, als Zach den gesamten Windelinhalt übers Kinderbett verteilt und jeden einzelnen Holzgitterstab sorgfältig beschmiert hatte, würde sie wegen meines finanziellen Dilemmas hundertprozentig ausflippen. Meine Mutter arbeitete als Buchhalterin für eine gemeinnützige Organisation. Sie verdiente nicht viel Geld, doch lebte genügsam und war, mit Hilfe der Lebensversicherung meines Vaters, niemals in finanzielle Not geraten. Und so sagte ich: »Es ist alles in Ordnung. Ich muss in den nächsten Wochen nur mal mit einem Buchhalter reden.«
Sie nippte an ihrem Kaffee und sah mich eindringlich an. »Du bist erschöpft. Kannst du schlafen?«
Ich zuckte die Schultern, machte eine wippende Handbewegung.
»Dann ruh dich doch heute aus, ich kümmere mich um die Kinder. Wir gehen in den großen Freizeitpark oder irgendwo anders hin, wo sie sich austoben können, dann sind sie genauso erschöpft wie wir.«
Ich war müde. Doch die Kinder brauchten mich, und ich brauchte sie. Ihre leibliche Mutter fing an, sie zu umkreisen, und ich wusste nicht, ob sie einen Landeplatz suchte oder auf Beutejagd war und jeden Moment Annie und Zach an sich reißen würde, oder, bestenfalls, aus der Ferne das Nest beobachten wollte, das sie Jahre zuvor verlassen hatte.
»Lass uns alle zusammen gehen. Ich will mit euch allen was unternehmen.«
»Du wirst noch viel Zeit mit Annie und Zach verbringen, Liebes. Jede Menge. Und ich komme zurück so schnell es geht. Du musst jetzt auch gut für dich selbst sorgen.«
»Ich muss eine Mutter sein. Ich muss mich wieder fangen. Lass mich noch drei Tassen Kaffee trinken und duschen, dann bin ich bereit.«
Als ich zurückkam, blätterte meine Mutter gerade kopfschüttelnd durch eines unserer Fotoalben. »Ihr habt die Kunst des Picknicks wirklich perfektioniert.«
Ich setzte mich auf die Sofalehne. Wir waren mit den Kindern immer nur zusammen mit den Großeltern in Freizeitparks gewesen. Joe und ich mieden sie, dafür machten wir so oft wie möglich Picknicks, die wir vier alle gleich gern mochten, aber aus unterschiedlichen Gründen. Joe konnte seine Fotos machen und gleichzeitig mit seiner Familie zusammen sein. Mich begeisterten die mit Redwoods gesäumten Wanderwege und die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt. Die Kinder liebten es, Insekten zu fangen und herauszufinden, ob ich ihren Namen kannte. Annie hatte für all die Insekten, Blumen und Vögel ein kleines Buch, in das sie sorgfältig jeden Buchstaben schrieb, den ich ihr sagte.
Und natürlich aßen wir alle sehr gern. Bei unseren Picknicks gab es nicht die typischen Erdnussbutter-mit-Marmelade-Brote, sondern Salate und Brotaufstriche mit Zutaten aus unserem Garten, wobei ich eine ungekannte Freude am Kochen entwickelte. Wir hatten zwei Kinder, die alles aßen, und ich probierte immer wieder Neues aus, so dass wir uns hinterher zurück ins Gras legten und stöhnten, wie gut wieder alles geschmeckt hatte.
»Oder würdest du heute lieber ein Picknick machen?«, fragte meine Mutter. »Das wäre wahrscheinlich einfacher, wir haben noch so viel Essen im Kühlschrank.«
Ich schüttelte den Kopf. Jetzt ein Picknick ohne Joe zu machen, wäre wie mit einem stumpfen Messer ein Loch mitten in mich reinzuschneiden … und für Annie und Zach wäre es sicher nicht viel anders. »Nein. Wir fahren ins Great America, den Freizeitpark hier in der Nähe. Das Land der unbegrenzten Dollars, Heimat der tapferen Mütter und Großmütter! Genau das machen wir!«
Wenn wir nach diesem Tag vom Great America sprachen, nannten wir es immer nur
Grässliches Amerika
, und das war nicht politisch gemeint. Dass der Ausflug schiefgelaufen war, hatte mit meinem Schlafmangel zu tun, mit meinem toten Ehemann, der großen Hitze und den Kindern, die viel zu viel Zuckerwatte und Eiscreme aßen; und nicht zuletzt damit, dass ich meine Menstruation bekam und mein Körper die Gelegenheit nutzte, alle Gefühle rauszulassen – wozu plötzlich auch gehörte, dass ich stinksauer wurde. Die Hitze über fünfunddreißig Grad backte alles und jeden, so dass nur eine Fahrt mit der Big-Splash-Achterbahn attraktiv klang. Wir standen eine Stunde und fünfunddreißig Minuten in der Warteschlange, bevor uns klarwurde, dass Zach dafür viel zu klein war. Annie und meine Mutter standen weiter an,
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