Die andere Seite des Glücks
würde? Das hoffte ich inständig, hoffte, dass sein letzter Blick auf die Welt der Blick durch die Linse seiner Kamera war, auf die rostrote, zerklüftete Klippe vor blauem Himmel, und nicht der Gedanke an Annie und Zach, die in meinen Armen weinten. Als Ariel mit Prinz Eric an der Wasseroberfläche auftauchte und ihn mit ihrer wunderschönen Stimme wieder zum Leben erweckte, liefen uns allen die Tränen übers Gesicht. Annie drückte ihre nasse Wange an meinen Hals und sagte: »Ich wünschte, Meerjungfrauen gäbe es wirklich.«
»O ja, Banannie, das wünschte ich auch«, erwiderte ich.
Zach sagte: »Wenn ich König Triton wäre, hätte ich so laut GEBRÜLLT , dass alle Fische und Meerjungfrauen Daddy hoch an die LUFT bringen würden! Furchtbar gebrüllt hätte ich.« Er legte den Kopf in meinen Schoß, und ich strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Doch dann fing er an zu schluchzen. »Ich will meinen DADDY ! Ich will meinen DADDY !«, und Annie brach ebenfalls zusammen, schrie noch lauter als Zach, die gleichen Worte, immer und immer wieder.
Ich hielt mich wacker, dachte an das große Schiff mit Urgroßmutter Just und ihren beiden Kindern auf dem Weg in eine unbekannte Welt. Irgendwann versiegten Annies und Zachs Tränen, ihre Schreie verklangen, und ihr Atem wurde ruhiger. Schließlich schliefen sie ein, die Gesichter gezeichnet von den salzigen Spuren ihres Kummers.
9. Kapitel
Eines Tages legten Joe senior und Marcella ihre schwarze Kleidung ab, und in der folgenden Woche trugen sie die Farben Rot, Weiß und Blau. Das geschah nicht aus Respektlosigkeit gegenüber Joe, sondern in vielerlei Hinsicht ihm zu Ehren. Joe senior und Marcella Capozzi kamen ihrer Bürgerpflicht nach, indem sie zur Feier des 4 . Juli traditionell als Erste die Verandasäulen des Ladens mit den Farben der amerikanischen Flagge dekorierten, woraufhin alle anderen Einwohner es ihnen gleichtaten. Elbow feierte den Nationalfeiertag, wie New York City Silvester feierte. Die Veranda vor Capozzi’s Market war unser kleiner Times Square. Das »Beach and Boom«-Barbecue war eine dreiundvierzig Jahre alte Tradition, die von Großvater Sergio nach dem Krieg begonnen und auch jetzt weitergeführt wurde. Ja, der Mann, der in ein Internierungslager gesteckt worden war, hatte den 4 . Juli offenbar begeistert gefeiert. Das Fest gehörte so sehr zur Familie und der ganzen Stadt, dass auch Joe es nie hinterfragt hatte.
Lucy fand uns im Garten. Zachs Superhelden entdeckten in ihrem Raumschiff
Tomatenkorb
gerade einen lange verloren geglaubten Planeten, und Annie hatte Callie in ein Pferd umfunktioniert.
Ich richtete mich auf, dehnte den Rücken und umarmte Lucy. »Deine Haare sind ganz warm«, sagte sie. »Ich hatte erwartet, dass ihr drei schon eure Kostüme anhabt.«
Ich zuckte die Schultern. »Ich kann es mir ohne ihn nicht einmal vorstellen, es ist einfach zu gruselig.«
»Ich weiß. Aber hingehen tut ihr trotzdem, oder?«
Ich nickte.
»Ich finde, wir sollten unsere Kostüme anziehen«, sagte Annie.
»Ich dachte, du hättest keine Lust dazu, Banannie.«
»War auch so. Aber jetzt schon. Und ich wette, Zach auch.«
Zach nickte und machte wieder sein Mhm-hm, wobei er Batman in die Gurken warf. Seit Joe den Stadtausrufer gegeben hatte, der die Lieder anstimmte und aus der Unabhängigkeitserklärung vorlas, trugen wir vier am 4 . Juli zeitgenössische Kostüme – Annie und ich lange Kleider und Hauben, Zach und Joe Pantalons, Westen und schwarze Hüte.
Jetzt würde David die Rolle des Zeremonienmeisters übernehmen; er hatte Joes Kostüm bereits abgeholt.
»Also gut«, sagte ich.
»Also gut.« Annie hüpfte von Callie runter. »Auf geht’s, Leute.« Und sie geleitete uns ins Haus, wo wir uns umzogen.
Vor einem Jahr hatte ich mit Zach auf dem Arm und in mein Plastik-Kazoo blasend in der ersten Reihe gestanden, während mein Mann auf der Veranda vor Capozzi’s Market die vielen Menschen animierte, »You’re a Grand Old Flag«, »America the Beautiful« und »Yankee Doodle Dandy« mit ihm zu singen. Bei dem Satz »I’ve got a Yankee Doodle sweetheart, she’s my Yankee Doodle joy« hatte er Annie und mich und Zach auf die Veranda geholt und uns zu den Jubelschreien der Menschen und den Klängen der zusammengewürfelten Band immer und immer wieder im Kreis gedreht. Der ganze Tag war eine einzige kitschige, amateurhafte Ode an die Nostalgie gewesen, und ich hatte jede Minute davon genossen. Man stelle sich das Bild vor, wie ich den
Weitere Kostenlose Bücher