Die andere Seite des Glücks
Verandageländer eine Schote in seinen Pfoten hin und her wendete und inspizierte. »Ich denke immer noch oft an Dad. An die vielen Campingausflüge zur Olympic-Halbinsel, und was er mir alles in den acht kurzen Jahren beigebracht hat.« Sie nahm meine Hand und drückte sie. »Also Mom, wie hast du das überlebt?«
Sie ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Pinot blanc heraus.
»Aha, so also.«
Sie lächelte. »Verlockend, zugegeben, aber nein.« Sie schenkte uns beiden ein Glas ein.
»Wie du dich vielleicht erinnerst, war ich am Anfang zu nichts zu gebrauchen … Aber dann dachte ich immer wieder an meine Großmutter – deine Urgroßmutter Just. Als ihr Mann nach Amerika ging, hatte sie in Österreich gewartet. Er sagte, sobald er Arbeit hätte, würde er sie nachkommen lassen. Sie wartete ein ganzes Jahr, ohne etwas von ihm zu hören. Dann verkaufte sie ihr Hab und Gut und bestieg mit ihren beiden Kindern ein Schiff nach Amerika. Sie sprach kein Wort Englisch und kannte keine Menschenseele. Ich sehe sie geradezu vor mir, als wäre ich dabei gewesen: eine zierliche Frau mit einem Zopf bis über die Taille, frierend und elendig, in jedem Arm ein Kind, an das sie sich verzweifelt klammert. Kannst du dir das vorstellen? Dicht zusammengedrängt auf einem Schiff, auf dem Weg in eine unbekannte Welt …« Kopfschüttelnd sah sie mich an. »Und wenn es mir schlechtging wegen dem, was ich gerade durchmachte, hat der Gedanke an sie mir Kraft gegeben.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Nun, sie hat ihren Mann gefunden. Sie hat ihn wirklich gefunden! Er hatte alles Geld versoffen, war pleite und hinter jedem Rock her. Aber am schlimmsten war seine Gewalttätigkeit. Also hat sie ihn vor die Tür gesetzt und – die reine Ironie – während der Prohibition schwarz gebrannten Schnaps verkauft. So gesehen hat sie die beiden Kinder, also meine Mutter und Tante Lily, mit einer Falltür unterm Küchentisch und einem geflochtenen Flickenteppich darüber großgezogen. Ist übrigens derselbe Küchentisch, den ich immer noch habe.«
Ich sagte nichts, sondern überlegte, welcher Teil der Geschichte mit uns beiden etwas zu tun haben könnte. Nicht die geheime Falltür oder der schwarz gebrannte Schnaps. Nicht die zierliche Mutter mit zwei Kindern auf dem Schiff, nicht der trinkende, brutale Ehemann. Callie bellte. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie das Eichhörnchen einen Hechtsprung auf die Eiche machte und verschwand.
»Ella.« Meine Mutter umfasste meine Schultern. »Wir sind die Nachkommen mehrerer Generationen starker Frauen. Und diese Stärke sehe ich auch in dir.«
»Danke«, sagte ich. Unsere Gesichter waren sich ganz nah, fast zu nah an all dem Ungesagten. Ich hätte jetzt noch weiter fragen können, doch so dumm war ich nicht – die Lektion hatte ich vor langer Zeit gelernt. Ich trat einen Schritt zurück und nahm mein Weinglas, und sie folgte meinem Beispiel. »He, heißt das, ich kriege den alten Kiefernholztisch? Den hab ich schon immer klasse gefunden.«
Sie hob das Glas. »Aber nicht vor meinem letzten Atemzug.«
Wir stießen an. Ein stummer Trinkspruch auf einen weiteren Erfolg: Wieder einmal hatten wir über meinen Vater gesprochen, ohne über meinen Vater zu sprechen.
8. Kapitel
Am nächsten Morgen fuhr ich meine Mutter zum Shuttle-Bus, der sie zum Flughafen bringen würde. Zuvor hatte sie noch angeboten, ihre Abreise zu verschieben und jemanden zu bitten, sie bei der Arbeit zu vertreten.
Ich wollte nicht, dass sie wegfuhr. Doch ich wusste auch, dass ein Aufschub ihrer Abreise keinem von uns helfen würde.
So machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum DoubleTree Inn, wo sie in den Shuttle-Bus zum Flughafen in San Francisco stieg und ich Zach mit Plätzchen und Saft ablenkte, der ihr sonst hinterhergelaufen wäre und sie festgehalten hätte. Wir winkten alle, und mich beglückte allein die Tatsache, dass Zach nicht wie gestern Wutanfälle bekam. Ich schnallte die Kinder in ihren Sitzen fest, und wir machten uns auf den Heimweg. An einer roten Ampel drehte ich mich zu ihnen um. »Es tut mir leid, dass ich euch gestern im Auto so angeschrien habe«, sagte ich. »Auf diese Weise hätte ich nicht sagen dürfen, dass ihr mit dem Streiten aufhören sollt. Es tut mir wirklich leid. Verzeiht ihr mir?«
Zach nickte übertrieben heftig und sagte: »Mhm, hm, hm.« Das hatte ich noch nie von ihm gehört.
»Natürlich verzeihen wir dir, Dummi«, erklärte Annie. »Aber wenn du deine Ruhe brauchst,
Weitere Kostenlose Bücher