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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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sich entlang des Flusses zu vergnügen. Einige bauten Sommerhäuser im Wald, aber nur wenige lebten das ganze Jahr über hier, und so war das auch heute noch. Viele der Leute mit Häusern »In the Shadies« flohen in den Wintermonaten an Orte wie Palm Springs.
    Ich spazierte durch Haarnadelkurven und legte hin und wieder eine Verschnaufpause ein, und je höher ich kam, desto größer wurden die Abstände zwischen den Häusern.
    Schließlich sah ich das Schild VORSICHT BISSIGER KÜNSTLER und ein Stück dahinter das Haus, dessen Anblick mich überraschte: Bei einem Mann, der nur selten seine Haare und Fingernägel schnitt, hatte ich so etwas nicht erwartet.
    Das Haus war mit großer Sorgfalt gebaut, jedes einzelne Stück Holz schien mit Bedacht gewählt, und jeder einzelne Flussstein passte perfekt in das Fundament und den massiven Schornstein. Diese Bauweise würde allen Naturgewalten trotzen – selbst wenn der Hügel von einer Lawine aus Schlamm und Stämmen erfasst würde, müsste sich die zerstörerische Masse in der Mitte teilen und rechts und links am Haus vorbeirollen, es unberührt lassen. Die Eingangstür mit den in Kupfer eingefassten Buntglasscheiben war flankiert von Töpfen voller winziger weißer Blumen mit rotem Rand, genannt Lippenstiftsalbei. Eine Reihe verschieden großer und unterschiedlich geformter Glöckchen rührte sich kurz im Schlaf und verstummte wieder. Ich klopfte und löste irgendwo in den Tiefen des Hauses lautes Gebell aus.
    Eine raue Stimme sagte: »Petunia, halt den Mund, Mädchen. Und du musst dich nicht gleich so aufregen, Jerry.« Clem Silver öffnete die Tür und sah mich lange an. Er trug ein altes,
California
-Sweatshirt voller Farbkleckse und eine weite Jogginghose. Sein Pferdeschwanz lag wie ein schlanker Nerz drapiert über der Schulter und reichte bis zu seiner Brust. »Oh, Ella Beene! Treten Sie ein, kommen Sie.« Er drehte sich um und schlurfte in Lammfellslippern den Flur entlang. Die Hunde, die aufgehört hatten zu bellen, inspizierten mich kurz, wandten sich anscheinend unbeeindruckt um und folgten Clem. Ich trat ins Haus.
    Es war warm und in goldenes Lampenlicht getaucht. »Wow«, sagte ich. »Sie haben es ja außergewöhnlich schön hier.«
    Er drehte sich erfreut zu mir um. »Danke sehr. Mir gefällt’s auch.«
    »Es ist wirklich wunderbar hier im Wald.«
    Er nickte mehrmals. »Ja, ja! Hier kann man verstehen, dass das alles vor dreihundertmillionen Jahren einmal unterm Meer lag.« Er lächelte. »Moment. Ich sollte Ihnen Tee anbieten, oder vielleicht Kaffee?«
    Ich entschied mich für Tee, und während er ihn machte, erzählte er. »Die Leute glauben, ich lebe hier oben, um weit weg vom Fluss zu sein, wegen der Überflutungen und dem, was ich als Kind erlebt habe.«
    »Was haben Sie denn erlebt?«, fragte ich.
    »Oh … ich hab ganz vergessen, dass Sie ja nicht von hier sind … Es ist eine alte Geschichte, ganz, ganz alt. Aber wenn ich jetzt drüber nachdenke« – er nahm eine Schachtel mit Teebeuteln aus dem Regal – »und angesichts dessen, was Joe junior passiert ist …« Er sah mich an, nickte. »Ja, sie könnte Ihnen gefallen.«
    Und so erzählte mir Clem Silver von der Flut 1937 , als er noch ein kleines Kind war. Seine Familie hatte am Fluss gelebt, drei Häuser weiter von Marcella und Joe senior, wo heute die Palomarinos wohnten. Clem war irgendwohin gelaufen, und niemand konnte ihn finden. Alle Leute wurden evakuiert, bis auf seine Eltern, die ihn verzweifelt suchten. Der Fluss stieg immer höher, und gerade, als seine Mutter ihn hinter einem Holzstoß beim Beobachten einer Spinne entdeckte und die Arme nach ihm ausstreckte, wurde er von einer Sturzflut weggerissen und flussabwärts getrieben, wo sie ihn nicht mehr erreichen und bald auch nicht mehr sehen konnte.
    »Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter schrie und ich Angst hatte, und dann füllten sich meine Ohren und Augen und mein Mund mit Wasser, und eine wunderbare Stille trat ein. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Und über mir dieser herrliche Lichtstrahl.
    Man hört ja oft von Leuten mit Nahtoderfahrung, dass sie dem Licht entgegengehen und so. Aber ich war tief unten im dunklen Flusswasser und hab nichts weiter gesehen als das Licht, und mehr brauchte ich auch nicht zu sehen, und es hat mich an die Wasseroberfläche geführt, an die Luft – und mir noch etliche Lebensjahre beschert und nicht irgendeine himmlische Begegnung, was mir ganz recht ist.
    Aber, Ella Beene, eines muss ich Ihnen

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