Die andere Seite des Glücks
das Gesicht in Joes Kissen.
»Also ich hab gestern eine erstaunliche Geschichte gehört, die mir ein alter, weiser Mann erzählt hat.«
»Eine wahre Geschichte? Oder eine erfundene?«
»Eine, die ganz und gar wahr ist. Als der Mann ein kleiner Junge war, sogar noch kleiner als du jetzt, wäre er
fast
ertrunken.«
Zach schnappte nach Luft, und einen Moment lang fürchtete ich, dass meine Erklärung nach hinten losgehen würde. »Ist er gestorben, wie Daddy?«
»Nein, er ist nicht gestorben, aber fast. Er war ganz tief unter Wasser. Und er hat gesagt, dass er sich da glücklich gefühlt hatte, obwohl er fast ertrunken wäre. Aber dann ist er wieder hochgekommen, hat Luft geholt und weitergelebt.«
»Hat die Meerjungfrau ihn gerettet?«
»Nein. Weißt du nicht mehr? Das hier ist eine wahre Geschichte.«
»Oh.«
»Und jetzt denke ich … vielleicht sind Batman und Robin nur
fast
ertrunken.«
»Und Catwoman und Joker auch?«
Er hüpfte im Bett auf und ab, schrie und jauchzte aus Leibeskräften. Wir rannten hinaus, beide noch im Schlafanzug, und das taufeuchte Gras benetzte unsere Füße. Ich nahm die Schaufel und stieß sie in den Boden, und als Callie sah, was wir machten, fing sie auch an zu buddeln. Wir gruben eine erdverkrustete Plastikfigur nach der anderen aus – die Helden wie auch die Schurken – und hatten unser eigenes kleines Osterfest mit Actionfiguren, die erlöst von ihren Sünden just an dem Morgen wiederauferstanden, als Capozzi’s Market seine eigene wundersame Wiedergeburt erlebte.
Fast ganz Elbow kam zu unserer Eröffnung. Die Leute bevölkerten den Laden und die Veranda und standen bis auf die Straße. Selbst Clem Silver erschien, um Karten zu signieren. Die Besitzer des Elbow Inn brachten ihre große historische Fotografie von einer Picknickgesellschaft am Fluss, die gerahmt und mit einer Schleife versehen an die Wand gehängt wurde. Ich war froh und dankbar für jeden, der kam, wusste aber auch, dass DAS LEBEN IST EIN PICKNICK zum Überleben mehr brauchte als den guten Willen der Nachbarn. Denn jeder Einzelne von ihnen konnte nach Hause gehen und für einen Bruchteil des Geldes einen eigenen Picknickkorb zusammenstellen. Wir brauchten hungrige Touristen. Wir brauchten wohlhabende Menschen von außerhalb.
Wir brauchten eine Wagenladung Publicity.
Ich fasste David am Arm. »Und, wo ist die Pressemeute?«
Er tätschelte meine Hand. »Keine Sorge, sie werden über die nächsten Wochen eintrudeln. Aber irgendjemand wird heute sicher vorbeikommen. Ist es nicht wunderbar? Alle finden den Laden toll!«
»Ich hab Ray Longobardi sagen hören, dass er eine weitere Hypothek aufnehmen muss, um mit unseren Sachen ein Picknick zu machen.«
»Ray Longobardi gehört ja wohl kaum zu unserer Zielgruppe. Vergiss ihn. Seine Vorstellung von einem Picknick ist Dosenfleisch auf labberigem Weißbrot und Dosenbier. Ich hingegen habe Franny Palomarino von unseren himbeerrot gestrichenen Verandamöbeln schwärmen hören, und dass unser Hühnchen-Curry-Salat der beste war, den sie in ihrem ganzen Leben gegessen hat. Stell deine Lauscher bei Franny auf, das wird dich beruhigen.«
Frank kam mit einem Korb voll handgemachter Seife herein. Lizzie betrieb von ihrer Scheune aus ein sehr erfolgreiches Geschäft mit selbst hergestellten Seifen. »Lizzie schafft es nicht zu kommen«, sagte er. »Aber sie schickt das hier.«
Ich nahm den Korb. »Das ist nett.« Wir beide wussten, dass sie es durchaus zur Eröffnung geschafft hätte, aber eben nicht, meine Freundin zu sein. »Sag Lizzi, dass ich mich bedanke.« Frank umarmte mich und machte sich daran, seinen Teller vollzuladen.
Annie trug ein Outfit, das meinem ähnelte und sie sich selbst ausgesucht hatte – Clogs, Leggings und ein langes Oberteil im Bauernlook. Sie hatte mich gebeten, ihr Haar zu einem französischem Zopf zu flechten, so dass ihr wunderschönes Gesicht leuchtete, als sie zu einer Schulfreundin sagte: »Du hast ja keine Vorstellung, wie lange ich gebraucht habe, um die ganzen Tischdecken genau richtig zu platzieren.«
Ich ging zu ihr hin. »Du hast das wirklich toll gemacht«, sagte ich. Sie strahlte noch mehr. Zach flitzte mit Batman und Robin durch die Gegend, gefolgt von einer Schar kleiner Jungen. Ich machte die Tür auf. »Raus an die frische Luft.« Sie rannten hinaus.
Lucy saß auf der vorderen Veranda. »Keine Sorge, ich hab die Bande immer noch im Auge. Sie waren nur schneller als ich und sind schnurstracks reinmarschiert, bevor ich
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