Die andere Seite des Glücks
gefahrlosen Einfordern von Süßigkeiten ins Einkaufszentrum karren. In Elbow kannte jeder jeden, die Wege waren kurz und die Kinder zahlreich, und DAS LEBEN IST EIN PICKNICK lag mitten im Zentrum. Ich hatte große Pläne.
Seit ich hier wohnte, nähte ich den Kindern jedes Jahr ein Kostüm, und das würde ich auch diesmal tun. Es stimmte zwar, dass eine leise Stimme im Hinterkopf mich immer wieder daran erinnerte, dass nächstes Jahr – und all die Jahre danach – alles anders sein könnte. Aber ich hielt mit ganzer Kraft dagegen und machte mich an die Arbeit.
»Mommy, was machst du da?«, fragte Annie. »Spielst du Erdhörnchen?« Annie lachte sich über ihren eigenen Witz schief.
Ich wühlte ganz hinten im Schrank wie die Erdhörnchen, die Callie immer wieder aufscheuchte. Er war noch voll mit Joes Kleidung, die auszusortieren ich auf jede meiner Listen schrieb, es aber irgendwie nie schaffte. »Ich suche die … hier ist sie.« Ich holte den schweren Plastikkoffer mit meiner Singer-Nähmaschine hervor. »Tata! Es ist wieder so weit.«
Annie betrachtete ihre Füße, bohrte den Zeh in den Teppich. »Ich wollte schon lange mit dir darüber reden.«
»Worüber, Banannie?« Letztes Jahr war sie ein Baum gewesen. Sie hatte braune Kordhosen angehabt und – über einem langärmligen braunen Hemd – eine grüne, mit Zeitungspapier ausgestopfte Kopfkissenhülle, auf der ich mit einer Klebepistole glänzende grüne Stoffblätter befestigt hatte. An den Arm hatten wir eine kleine Baumschaukel aus einem Seil und Holzbrettchen gehängt und einen Plüschbär drauf gesetzt. Auf dem Kopf trug sie einen Hut mit einem kleinen Nest und einem künstlichen Rotkehlchen darin. Joe hatte sogar ein paar unechte Eier reingelegt. Sie hatte den ersten Preis beim Elbow Boo Fest gewonnen. »Hast du dir überlegt, was du sein möchtest?«
»Ja. Ich wäre gern Pocahontas.«
Nicht gerade originell, aber auch gut. »Okay! Dann mache ich mich jetzt auf die Suche nach Wildleder. Oh, und wir basteln Perlenketten. Vielleicht können wir das Kanu holen und dich darin auf einen Wagen …«
»Mommy? Ich dachte … Ich würde dieses Jahr gern ein Pocahontaskostüm kaufen. Du hast so viel zu tun, und die gibt es schon fix und fertig im Laden. Das wäre perfekt, ich sähe aus wie die richtige Pocahontas im Film.«
»Du meinst die richtige Pocahontas von Disney?«
»Genau! Ich sehe bestimmt toll damit aus. Und Molly verkleidet sich als Belle.« Die Tochter von Frank und Lizzie war in Annies Klasse, und die beiden waren jetzt noch dickere Freundinnen als früher. Frank und ich würden an Halloween mit unseren kostümierten Kindern von Haus zu Haus gehen und zusehen, wie sie Süßigkeiten einforderten – sicher auch diesmal ohne Lizzie, getreu ihrem Schwur: Geh Ella aus dem Weg.
»Großartig …«, sagte ich. Sie war gewachsen. Sie klemmte sich das Haar hinters Ohr und lächelte. Annie hatte meine selbstgemachten Kreationen immer geliebt. Sie hatte es geliebt, mir bei der Herstellung zu helfen, und war für ihre Kostüme immer bewundert worden. Auf jeden Fall wollte sie nicht in der Masse verschwinden und sicher bloß selbst entscheiden, was sie anziehen wollte. Ich wusste, dass das nur der Anfang vom Anfang ihrer Mom-Rebellion war, aber ich wollte auch in Zukunft jede davon erleben. Bauchfreie Tops, Piercings, Tattoos, Gothic-Schwarz von Kopf bis Fuß. Vielleicht würde sich ihr Widerstand auch direkt gegen mich richten und sie zu einer Cheerleaderin werden, die ihre Haare wie wild schüttelte, oder aber zum Shoppingmall-Glitzergirl. Oder sie weigerte sich, etwas anders als Fastfood von McDonald’s zu essen. Aber hier und jetzt wollte sie lediglich ein Halloween-Kostüm kaufen. Was mich im Prinzip finanziell überforderte, denn Kostüme im Disney-Store kosteten weit über fünfzig Dollar.
Als könnte sie meine Gedanken lesen, sagte Annie: »Mama sagt, es gibt einen Disney-Store in Lost Vegas. Sie kann mir sofort eins kaufen und schicken. Aber erst soll ich dich fragen.«
Ich nickte. Hatte sie das alles von Paige? Oder war es doch Annies Idee gewesen? So oder so, ich empfand es als gegen mich gerichtet, obwohl mein Verstand mir sagte, es einfach zu akzeptieren.
»Ist es okay, Mommy?« Sie hielt mir bittend die gefalteten Hände entgegen, hatte die Augenbrauen hochgezogen und lächelte ein wenig, als würde es helfen, so zu tun, als hätte ich schon ja gesagt. Doch wie konnte ich ihr diesen einen Wunsch abschlagen?
»Okay. Ja,
Weitere Kostenlose Bücher