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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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marschierte gerade das Komitee der »Sarg-Angler-Parade« in Richtung Ufer, um die nötigen Vorbereitungen für diese Elbower Tradition zu treffen, die auf einem echten Patzer der Gründungsväter dieser Stadt basierte. Damals, um 1870 , schossen die Sägewerke schneller aus dem Boden als die Bäume, und tausend Jahre alte Redwoods wurden in der Blüte ihres Lebens gefällt. Dann kam die Eisenbahn, und mit ihr kamen die Touristen: Elbow war geboren. Dank ihrer hervorragenden Lage und einem Sandstrand lebte die Stadt bald mehr vom Tourismus als der Holzwirtschaft, was aber niemanden davon abhielt, die Bäume weiterhin zu fällen und zirka eine Meile flussabwärts zur Edwards-Mühle zu befördern. Die Männer von Elbow, die nicht in der Tourismusbranche arbeiteten oder hier nur ein Sommerhaus besaßen, waren meistens in der Holzwirtschaft beschäftigt. Aber das Fällen von dicht beieinanderstehenden, neunzig Meter hohen und wie zwanzig Männer dicken Bäumen war gefährlich, und viele der Holzfäller kamen dabei um.
    So wurde an einem hübschen, ruhigen Ort nahe der Stadtgrenze – aber nicht weit genug vom Flussufer entfernt – schnell ein Friedhof angelegt. Durch das Hochwasser von 1897 wurde die falsche Wahl offenkundig. Der Fluss trat über die Ufer, und die Wassermassen rissen Gärten, Kutschen, ein paar Pferde und sechs Hütten mit sich; sie entwurzelten Bäume und spülten ein Dutzend Särge aus ihren Gräbern. Die Särge trieben zusammen mit den Holzstämmen den Fluss hinab, Richtung Mühle. Und jene, die eigentlich ihre letzte Ruhe gefunden haben sollten, waren plötzlich ruhelos.
    Die Einwohner der Stadt packten ihre Fischernetze und Seile, sprangen in die Ruderboote und machten sich daran, die Särge wieder einzufangen und an Land zu ziehen, was ihnen auch gelang. Obwohl es der Wahrheit entsprach, dass niemand in den Fluten umgekommen war, nicht einmal die Pferde, berichteten die Zeitungen, dass zwölf Leichen im Fluss gefunden wurden, was ebenfalls stimmte. Die Särge auf dem Friedhof, die die Flut nicht weggespült hatte, wurden ausgegraben und der Friedhof sofort auf den sonnigen Hügel verlegt, wo jetzt auch Joes Grab war.
    Das Friedhofsmissgeschick wurde jedes Jahr mit der Elbower Sarg-Angler-Parade gefeiert. Die Leute schmückten ihre Ruderboote, Kanus und Kajaks wie Flöße. Lebensgroße (oder vielleicht besser sterbensgroße) Särge aus Plastik wurden zwischen den »Ruderflößen« festgebunden, die wiederum alle mit Tiki-Lampen beleuchtet waren. Die Tradition verlangte absolute Stille, während die Boote und Särge langsam flussabwärts schipperten und sich die Flammen der Tiki-Lampen wie schweigsame Tänzer im Wasser spiegelten. Erstaunlicherweise hielten sich alle daran.

    Ich schlug Lucys Kofferraum zu und sagte: »Wow, Sarg-Angler. Warum ist mir nie aufgefallen, wie morbide das ist?«
    Lucy lächelte. »Natürlich ist es morbide. Es ist Halloween.«
    »Glaubst du, Annie und Zach kommen damit klar? Ich meine … sie haben gerade erst gesehen, wie der Sarg mit ihrem ertrunkenen Vater in der Erde versenkt wurde. Ich hab mit ihnen darüber gesprochen, und beide scheinen sich auf die Parade zu freuen. Aber trotzdem …«
    »Also, ich vermute mal, dass es okay ist. Außerdem wirst du sie genau beobachten, und wenn es dann plötzlich nicht mehr okay ist, bist du ja zur Stelle. El, es ist Halloween. Sie sind Kinder und heiß auf Süßigkeiten. Und sie lieben die Parade.«
    Am Abend führten wir im DAS LEBEN IST EIN PICKNICK unter dem Gejohle und Applaus von Lucy, David, Gil, Marcella und Joe senior unsere Kostüme vor.
    »He, Boo-Boo«, sagte David zu Gil. »Sieht ganz so aus, als hätten wir da einen Picknickkorb … Und eine riesengroße, grimmige … Ameise.«
    »Ich bin eine
Formica
«, sagte Zach.
    »Du kennst den lateinischen Namen?«, sagte Gil. »Deine Mutter muss die berühmte Entomologin Ella Beene sein. He, wo ist Bubby?« Zach zog Bubby aus seiner Kürbislaterne wie einen Hasen aus dem Hut. »Und seht nur unsere wunderschöne Pocahontas.«
    »Ella«, sagte Lucy, »ich glaube, diesmal hast du dich selbst übertroffen.«
    Ich hatte aus unserem alten Weidewäschekorb den Boden fast ganz rausgeschnitten, ihn mir bis zur Taille »übergezogen« und mit Joes alten Ledergürteln wie mit Hosenträgern über die Schultern gehängt. Dann hatte ich den Korb rundherum mit Zeitungspapier ausgestopft, mit einer rotweißkarierten Tischdecke bedeckt – meine Beine waren übrigens auch in eine

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