Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
gab sie Mutter und Vater die Schuld an allem, was schieflief.«
Onkel Tinsley redete ziemlich schlecht über Mom, und ich verspürte den Drang, sie zu verteidigen, aber es schien kein guter Zeitpunkt, mit ihm Streit anzufangen. Liz sah das wohl genauso, denn auch sie sagte nichts.
Die Scheune, die am Ende der Baumreihe stand, war riesig. Auch an ihr blätterte die weiße Farbe ab, und sie hatte ein grünes Metalldach, genau wie das Haus. Der Fußboden drinnen war aus Ziegel, die im Zickzackmuster verlegt worden waren, und darauf stand eine schwarze Kutsche mit vergoldeten Zierleisten. Daneben parkte ein Kombi, der an den Seiten mit echtem Holz verkleidet war.
Onkel Tinsley führte uns durch einen Raum mit staubigen Sätteln und Zaumzeug und ganz vielen verblassten Siegerschleifen von Pferdeschauen an den Wänden und dann eine schmale Treppe hoch. Oben war zu meiner Überraschung ein hübsches kleines Zimmer mit Bett und Tisch, einer Kochnische und einem Holzofen.
»Hier hat früher der Stallbursche gewohnt«, sagte Onkel Tinsley. »Ist lange her.«
»Wo ist Tante Martha?«, fragte Liz erneut.
»Hat Charlotte euch das nicht erzählt?« Onkel Tinsley trat ans Fenster und schaute hinaus in das dämmernde Licht. »Martha ist gestorben«, sagte er. »Im September sind es sechs Jahre. Ein Lkw hat eine rote Ampel überfahren.«
»Tante Martha?«, sagte Liz. »Ich kann’s gar nicht glauben.«
Onkel Tinsley drehte sich um und sah uns an. »Du dürftest dich kaum an sie erinnern. Du warst zu klein.«
»Ich kann mich richtig gut an sie erinnern«, sagte Liz. Sie erzählte Onkel Tinsley, dass sie sich daran erinnerte, wie sie mal mit Tante Martha Brot gebacken hatte. Tante Martha hatte eine rote Schürze getragen, und Liz konnte noch immer das Brot riechen. Sie erinnerte sich auch, wie Tante Martha mit ihren weißen Lederhandschuhen Rosen geschnitten und dabei gesummt hatte. Und sie erinnerte sich, wie Tante Martha und Onkel Tinsley zusammen auf dem Flügel gespielt hatten, bei weit geöffneten Verandatüren, durch die die Sonne hereinströmte. »Ich denke viel an sie.«
Onkel Tinsley nickte. »Ich auch«, sagte er. Dann stockte er, als wollte er noch etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf und ging zur Tür hinaus. Bevor er sie schloss, sagte er noch: »Macht’s euch gemütlich hier.«
Wir hörten ihn die Treppe hinunterpoltern. Ich sah einen kleinen Kühlschrank neben der Spüle und merkte im selben Moment, dass ich halb verhungert war. Ich machte den Kühlschrank auf, aber er war leer und gar nicht eingestöpselt. Wir beschlossen, dass es keine gute Idee wäre, Onkel Tinsley wegen Essen zu belästigen. Ich fand mich schon damit ab, hungrig ins Bett zu gehen, als kurz darauf wieder Schritte auf der Treppe zu hören waren. Onkel Tinsley tauchte in der Tür auf. Er trug ein silbernes Tablett mit einem kleinen Topf, zwei Tellern, einem Krug Wasser und zwei Weingläsern darauf.
»Wildragout«, sagte er. Er stellte das Tablett auf den Tisch. »Es ist dunkel hier drin. Ihr braucht Licht.« Er betätigte einen Schalter an der Wand, und eine Glühbirne an der Decke ging an. »Schlaft gut«, sagte er und zog die Tür wieder hinter sich zu.
Liz füllte die Teller, und wir setzten uns an den Tisch. Ich aß einen Löffel von dem Eintopf. »Was ist Wildragout?«, fragte ich.
»Hirschfleischstücke.«
»Oh.«
Ich aß noch einen Löffel.
»Schmeckt ganz gut«, sagte ich.
5
F rüh am nächsten Morgen weckten mich die Vögel. Ich hatte noch nie so laute Vögel gehört. Ich ging zum Fenster, und sie waren überall – in den Bäumen, auf dem Boden, sie jagten in die Scheune und wieder hinaus, als würde sie ihnen gehören, und veranstalteten mit ihrem Piepsen und Zwitschern und Trillern einen unglaublichen Lärm.
Liz und ich zogen uns an und marschierten rüber zum Haus. Als wir an die Haustür klopften, machte keiner auf, also gingen wir auf die Rückseite. Durch ein Fenster konnten wir Onkel Tinsley in der Küche hantieren sehen. Liz klopfte an die Fensterscheibe, und Onkel Tinsley öffnete die Hintertür, blieb aber im Türrahmen stehen, genau wie am Abend zuvor. Er hatte sich rasiert, sein nasses Haar war gekämmt, der Scheitel gerade, und statt seines Bademantels trug er eine graue Hose und ein hellblaues Hemd, mit dem Monogramm MTH auf der Brusttasche.
»Wie habt ihr geschlafen?«, fragte er.
»Sehr gut«, sagte Liz.
»Die Vögel machen ganz schön viel Krach«, sagte ich.
»Ich benutze keine Pestizide,
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