Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
Vom Netzwerk:
Mädchen ihn bekommt.«
    Charlie und Clarence hätten sich immer sehr nahegestanden, erzählte Tante Al weiter. Ihre Eltern hatten eine Farm gepachtet und waren bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen. Sie hatten versucht, nachts während eines schlimmen Unwetters die Tabakernte einzubringen, und dabei war der Traktor am Hang umgekippt. Damals war Charlie sechs, und Clarence war elf. Von ihren Verwandten hatte keiner genug Geld gehabt, um beide Jungs durchzufüttern, und da Charlie zu jung war, um seinen Unterhalt zu verdienen, wollte ihn keiner haben. Clarence erklärte der Familie, die ihn zu sich nahm, er würde für zwei arbeiten, wenn sie auch Charlie aufnehmen würden. Die Familie stimmte erst mal auf Probe zu, und Clarence schuftete bis zum Umfallen, brach die Schule ab, um die Pflichten eines erwachsenen Mannes zu übernehmen. Die Brüder blieben zusammen.
    »Aber diese Jahre haben Clarence hart gemacht«, sagte Tante Al, »und als er in der Weberei anfing, dachten die meisten Frauen, er wäre einfach böse. Nur ich hab den traurigen Waisenjungen in dem verbitterten Mann gesehen. Clarence war es einfach nicht gewohnt, dass jemand sich um ihn kümmert.«
    »Ich möchte mich bei ihm für den Silver Star bedanken«, sagte ich.
    »Er ist draußen im Garten.«
    Ich ging durch das kleine dunkle Wohnzimmer der Wyatts, das neben der Küche lag, und zur Hintertür hinaus. Onkel Clarence kniete in einem Beet mit einigen spärlichen Bohnenpflanzen, gestützten Tomaten und Gurkenranken, hatte einen ramponierten Strohhut auf dem Kopf und lockerte mit einer kleinen Schaufel die Erde rund um die Pflanzen.
    »Onkel Clarence«, sagte ich. »Danke, dass du mir den Silver Star von meinem Dad geschenkt hast.«
    Onkel Clarence blickte nicht auf.
    »Tante Al hat gesagt, ihr beide habt euch nahegestanden«, schob ich nach.
    Er nickte. Dann legte er die Schaufel weg und wandte sich mir zu. »Verdammt schade, dass deine Momma verrückt geworden ist«, sagte er. »Dieser Frau stand das Wort ›Ärger‹ auf die Stirn geschrieben. Deiner Momma zu begegnen war das Schlimmste, was deinem Daddy je passiert ist.«

14
    A m nächsten Tag gingen Liz und ich wieder auf Arbeitssuche. Die meisten Häuser in Byler, ob hochherrschaftlich oder heruntergekommen, waren alt, aber am späten Nachmittag kamen wir auf eine Straße mit neuen Bungalows und Zweifamilienhäusern mit Carports und asphaltierten Einfahrten und zarten jungen Bäumen in kreisrunden, gemulchten Pflanzlöchern. Um den Vorgarten eines dieser Häuser war ein Maschendrahtzaun, an dem etliche Radkappen hingen. In der Einfahrt stand ein glänzender schwarzer Wagen mit geöffneter Motorhaube, und ein Mann hantierte am Motor herum, während ein Mädchen hinter dem Lenkrad saß.
    Der Mann rief dem Mädchen zu, den Wagen anzulassen, aber die Kleine gab zu viel Gas, und als der Motor aufheulte, riss der Mann den Kopf hoch und knallte gegen die Haube. Er fluchte laut, schrie, die Kleine wollte ihn wohl umbringen, und dann drehte er sich um und sah uns.
    »Tut mir leid, Ladys. Hatte euch nicht gesehen«, sagte er. »Ich versuche, diesen verdammten Motor zu reparieren, und meine Kleine hier ist keine große Hilfe.«
    Er war ein massiger Mann. Nicht dick, einfach massig, wie ein Bulle. Er zog sein T-Shirt hoch, um sich damit übers Gesicht zu wischen, und sein breiter, behaarter Bauch kam zum Vorschein. Dann wischte er sich die Hände an der Jeans ab.
    »Vielleicht können wir ja helfen«, sagte Liz.
    »Wir suchen Arbeit«, sagte ich.
    »Ach ja? Was denn für Arbeit?«
    Der Mann kam zu uns rüber. Sein Gang war schwerfällig, aber irgendwie auch leichtfüßig, als könnte er sich sehr schnell bewegen, falls nötig. Seine Arme waren so dick wie Oberschenkel, auch seine Finger waren dick, und sein Hals war dicker als der Kopf. Er hatte kurze blonde Haare, kleine, aber sehr helle blaue Augen und eine breite Nase mit geblähten Nasenlöchern.
    »Jede Art von Arbeit«, sagte Liz. »Gartenarbeit, Babysitten, Putzen.«
    Der Mann musterte uns von oben bis unten. »Ich hab euch zwei noch nie gesehen.«
    »Wir sind erst seit ein paar Wochen hier«, sagte ich.
    »Ist eure Familie hierhergezogen?«, fragte er.
    »Wir sind quasi zu Besuch«, antwortete Liz.
    »Quasi zu Besuch«, wiederholte er. »Was heißt denn das?«
    »Wir wohnen für eine Weile bei unserem Onkel«, sagte ich.
    »Und wieso?«
    »Na ja, wir verbringen einfach den Sommer bei ihm«, sagte Liz.
    »Wir sind hier geboren«, sagte ich.

Weitere Kostenlose Bücher