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Die Angst der Boesen

Die Angst der Boesen

Titel: Die Angst der Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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schrie Paul aus Leibeskräften und rüttelte in seiner Not an der Leiter, die gefährlich schwankte.
    »Kletter wieder runter, Paul! Geh nach Hause zu Mama«, befahl ihm Nolte. »Wenn nicht, wirst du mitansehen, wie deine Freundin hier den kürzeren Weg nimmt. Diese Methode hat einen großen Vorteil: Man macht sich nicht die Hände schmutzig. Ein Messer zu nehmen gibt eine Riesensauerei. So ist es besser.«
    »Leon ist tot !«, schrie Paul.
    »Ja? Gut. Und der Türke? Wie hieß er noch gleich: Ibrahim?«
    Lillys Turnschuhe quietschten auf der Plattform. Nolte hatte begonnen, sie an den Schultern nach vorn zu drücken. Ihre Arme ruderten in der Luft, auf der Suche nach einem Halt.
    So schnell er konnte, stieg Paul die letzten Stufen hoch. Er glaubte nicht mehr, dass er Lilly retten könnte. Ihre Füße hatten den Abgrund schon erreicht. Aber Paul musste alles versuchen. Er war es ihr schuldig.
    Plötzlich ertönte eine elektronische Melodie, laut, vertraut, fordernd.
    »Hab ich euch die Scheißhandys nicht abgenommen?« Nolte wirkte irritiert, weil ihm ein Fehler unterlaufen war. Er hörte auf, Lilly vorwärtszuschieben. Mit den Händen auf ihren Schultern stand er da, während ihre Beine schon in der Luft baumelten und sie nur noch mit den Pobacken auf dem Turm Halt fand.
    »Willst du deine letzte Nachricht noch hören?«
    Lilly gab keine Antwort, Paul auch nicht. Während Nolte ihr das Handy abnahm und aus unerfindlichen Gründen – vielleicht purer Neugier – den Anrufbeantworter laut stellte, kletterte Paul auf die Plattform.
    Im gleichen Moment erklang Tatjanas aufgeregte Stimme:
    »Warum gehst denn du nicht dran, Lilly? Ich hab mir das jetzt überlegt, ich mach das. Ich sag ihm, dass ich dabei war und ihr nicht.«
    Tatjana schnappte am anderen Ende nach Luft. »Auch wenn ich so ’ne Angst hab, Lilly, so ’ne Scheißangst vor diesem Killer: Ich mach das für euch. Ich warte hier auf jemanden vom Radio, der sendet das alle halbe Stunde, hat er mir versprochen, der Moderator oder wie der heißt, der sagt dann, dass Tatjana Schmitt dabei war, als der Penner gestiefelt wurde, Tatjana und nicht Lilly, und Levent auch nicht. Ich mein, ich kann nur für mich sprechen. Was andere Leute tun, ist deren Sache.«
55
    Gerd presste in einem stillen Fluch die Zähne aufeinander. Konnte er sich so getäuscht haben? Konnte irgendeine unscheinbare Tatjana Schmitt schuldig sein und diese schrille Schreckschraube, die Martins Marie so verdammt ähnlich sah, dagegen nicht? Sollte ihm ein solcher Schnitzer unterlaufen sein?
    Er hatte doch so gut wie möglich recherchiert: den Herbergswirt und die Lehrerin ausgehorcht, die Fotos studiert, die Schüler beschattet und so weiter. Lilly war schuldig. Sie stand auf der Liste, sie gehörte zu den Bösen.
    Auch wenn ihre Augen nicht ganz so stumpf und leer waren, auch wenn sie ihn in seiner Verkleidung als Stadtstreicher zuerst freundlich angesprochen hatte, auch wenn sie ihm todesmutig und selbstlos gefolgt war, um den Sohn seiner Vermieterin zu retten.
    Sie passte nicht ganz ins Bild, aber ... Man brauchte sie doch nur anzuschauen. Er bräuchte ihr nur noch ein Mal in die Augen sehen, dann wüsste er wieder, dass er richtiglag.
    Aber dafür müsste er sie umdrehen und das war wohl kaum noch möglich.
    »Sie haben Tatjana gehört.« Der Sohn seiner Vermieterin stellte sich neben ihn und stand jetzt mit dem Rücken zum Becken, die linke Hand am Geländer, die rechte ausgestreckt, damit Lilly sich festhalten konnte. »Lassen Sie Lilly gehen! Bitte, Sie haben gehört, dass sie unschuldig ist.«
    Gerd ahnte, dass Paul Brinker recht hatte. Die Worte des fremden Mädchens auf der Mailbox hatten ehrlich und überzeugend geklungen. Nur ungern sah er es ein: Das Mädchen hier, dessen knochige Schultern er eisern festhielt, war die Falsche.
    »Aber selbst wenn sie in diesem Fall unschuldig ist ... Die sieht doch aus wie Dreck.«
    »Sie haben kein Recht, so zu reden.«
    »Hattet ihr denn das Recht, meinen Sohn zusammenzuschlagen, ihn wie Dreck zu behandeln, ihn in den Müll zu werfen? Denk daran, Paul Brinker, ihr habt angefangen, ihr, deine Freunde, völlig ohne jeden Grund.«
    »Ja, stimmt. Aber Lilly nicht. Sie war nicht dabei.«
    »Was wäre denn anders gewesen, wenn sie dabei gewesen wäre?«
    »Lilly hätte ... Lilly hätte das nicht zugelassen.« Paul Brinker heulte. Er heulte laut und streckte seine Hand flehentlich nach der des Mädchens aus. Die gab keinen Laut mehr von sich. Sie

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