Die Angst der Boesen
leicht wegschleppen. Für eine Sekunde füllte sein massiger Körper den Türrahmen aus und tauchte den Raum ins Dunkel. Dann strömte das Licht wieder herein; die Schritte entfernten sich.
Paul bibberte, seine Zähne schlugen aufeinander, seine Blase platzte fast und Noltes Speichel vermischte sich mit seinen Tränen.
»O Gott, Levent, wir müssen Lilly helfen.«
»Ich kann nicht laufen, du Idiot«, entgegnete Levent schwach. Doch er robbte zu ihm rüber, zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche und machte sich damit an Pauls Fesseln zu schaffen. Mit Erleichterung sah Paul, dass Levent ein großes Schweizer Messer am Schlüsselring hatte.
»Halt still, verdammt! Wir können nur hoffen, dass die Polizei uns schnell findet. Wenn deine Mutter mitgedacht hat, wissen sie jetzt, dass wir ihn verfolgen. Bloß haben sie keine Ahnung, wohin wir gefahren sind.« Levents kalkweißes, schweißiges Gesicht war schmerzverzerrt. Trotzdem sägte und schnitt er weiter am Kabelbinder. Das dauerte und dauerte ... Und dabei erfuhr Paul nun auch noch, dass Leon im Krankenhaus gestorben und Ilkay schwer verletzt war.
»Ich hoffe«, keuchte Levent, »dass die Polizei uns über den Sender in Lillys Handy findet. Nolte wollte unsere Handys haben, um sie unschädlich zu machen. Ich hab ihm meine beiden gegeben. Er hat das nicht gemerkt. Er denkt, er hätte das Problem ausgeschaltet.«
Von draußen hörten sie einen gellenden Schrei.
»Beeil dich«, drängte Paul.
»Was meinst du, was ich mach? Siehst du mein Bein, siehst du das? Ich geb alles, ey.«
Gestern Morgen waren sie noch Feinde, heute Morgen waren sie aufeinander angewiesen.
Endlich hatte Levent es geschafft. Paul riss seinen Arm los.
Im gleichen Moment ließ sich sein Mitschüler völlig erschöpft auf den Boden fallen. »Du musst es alleine machen, Alter.«
»Halt durch, Levent.« Paul hastete los.
Nach der gefesselt zugebrachten Nacht, fühlten sich seine Beine taub an, als er durch die Tür in den Sommermorgen hinausstolperte. Fünf flache Stufen ging es hinauf. Paul erreichte den Rand des ehemaligen Schwimmerbeckens. Kurz ging sein Blick über die seit Langem aufgegebene 25-Meter-Bahn: niemand im Becken, niemand an den Seiten, niemand hinten, wo der hohe Holzlattenzaun von Efeu überwuchert wurde.
Schon bevor er Nolte lachen hörte, ahnte Paul, wohin er schauen musste: nach oben.
Sie standen oben, hoch oben auf dem Sprungturm. Kein Zehner, aber doch ein Siebeneinhalber, und das Becken darunter noch mal einige Meter tief. Paul knickten die Knie weg. Das hatte Nolte also vor: Er wollte Lilly in den Tod springen lassen. Wahrscheinlich gab ihm das den besonderen Kick, sie Stück für Stück näher an den Rand der Betonplatte zu treiben. Entsetzt musste Paul miterleben, wie Lilly sich kreischend am Geländer festklammerte, wie sie in die Knie ging und auch die Beine ums Geländer schlang.
Pauls Schwindel wurde wieder heftiger. Doch trotz seiner Gehirnerschütterung ergriff er das kühle Metall der Leiter. Warum hatte man die eigentlich nicht abmontiert, warum hatten die Behörden gedacht, es reiche aus, das Gelände abzuriegeln, um die Leute am Hinaufklettern zu hindern?
Was spielt das noch für eine Rolle?, dachte Paul, während er unsicher Stufe für Stufe erklomm. Hätte sich der Turm nicht angeboten, hätte Nolte sich was anderes ausgedacht.
»Nolte«, rief Paul und hielt einen Moment inne, weil sich ihm alles drehte, »lassen Sie Lilly gehen, sie ist unschuldig.«
»Halt dich raus oder du bist der Nächste!« Nolte sah kurz zu Paul herunter und Lilly hatte Gelegenheit, ein Stück vomAbgrund wegzukrabbeln. Dadurch ließ sie aber das Geländer los.
Sofort zog Nolte sie in die Mitte der Plattform und packte sie an den Schultern. So konnte sie nicht mehr an die Stäbe heranlangen.
»Jetzt«, sagte Nolte befriedigt, »jetzt du.«
Lilly brachte keinen Ton mehr hervor. Sie saß mit dem Gesicht zum Abgrund, die gefesselten Hände nach vorne gestreckt. Mit Noltes Pranken auf ihren schmalen Schultern saß sie da wie ein Kind auf einem Schlitten, das darauf wartet, von den Erwachsenen einen Schubs zu kriegen, um den Berg runterzusausen. Früher, vor wenigen Jahren, war noch Wasser im Becken gewesen. Lilly hatte sicher mal an der Stelle gestanden, an der sie jetzt saß. Sie hatte sicher den gleichen Blick über das Becken auf die Bäume gehabt. Sie hatte sich aufs Eintauchen ins kühle Wasser gefreut.
Heute war kein Wasser drin, nicht mal eine Pfütze.
»Neeeeein«,
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