Die Angst der Woche
hier das gleiche Phänomen: Hätte es diese Todesfälle in zwangsweise zu benutzenden Schulbussen gegeben, wäre am nächsten Tag der Bundesverkehrsminister zurückgetreten und sämtliche Landeskultusminister gleich dazu.
Die wohl extremsten Unterschiede in der Ãberbewertung unfreiwilliger verglichen mit freiwilligen Risiken gibt es bei der Gefahr durch radioaktive Strahlung. Die ist in groÃen Dosen durchaus gefährlich, siehe Tschernobyl oder Fukushima. Darauf komme ich in diesem Buch noch an verschiedenen Stellen ausführlich zurück. Aber warum legen sich dann jährlich über sechs Millionen Deutsche freiwillig in einen Kernspintomografen? Das ist Weltrekord. Wir Deutsche sind Weltmeister im Durchleuchten und so eifrig dabei, dass der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Barmer Ersatzkasse, Rolf-Ulrich Schlenker, kürzlich mit Nachdruck vor der zunehmenden Strahlenbelastung durch Kernspin- und CT-Untersuchungen warnen musste. Darauf gehört hat niemand, auch die Medien blieben stumm und ohne Resonanz. Wird dagegen nur ein Tausendstel dieser Strahlung bei einem Castor-Transport frei, gibt es eine Extrasendung in der »Tagesschau«.
Auch dieses irrationale Unterschätzen freiwilliger wie das Ãberschätzen auferlegter Risiken hängt womöglich mit unseren Kindertagen im Urwald zusammen: Freiwillige Risiken sind leichter abzuschätzen. Dieses Risiko ist man schon öfter eingegangen, man hat es lebend überstanden, ergo sagt uns die Erfahrung: Alles nicht so schlimm. Und diese Botschaft ist unseren Genen auf ewig eingebrannt, genauso wie die Vorsicht vor Dingen, die man noch nicht kennt, vor Gefahren, die andere einem aufzuzwingen trachten. Vermutlich gab es auch unter unseren Vorfahren genug Vertreter, die diesen Risiken mit Gleichmut gegenübertraten. Sie lieÃen sich vom Stammeshäuptling auf einen Streifzug in unbekanntes Gelände schicken oder kreuzten als Erste eine tiefe Furt. Diese Vertreter haben aber eher selten überlebt, und deshalb ist der Gleichmut gegenüber von auÃen auferlegten Risiken auch unter den heute lebenden sieben Milliarden Menschen nur sehr schwach vertreten.
Â
Eine weitere evolutionäre Sackgasse ist das Ãberbetonen von Informationen wie »sehr viel«, »die meisten«, »kaum einer«, auf Kosten von exakten Zahlenangaben wie 163 oder 489. Denn mit exakten Zahlen wussten unsere Vorfahren überhaupt nichts anzufangen. Wenn sie bis drei zählen konnten, hatten die meisten die Endstufe ihrer mathematischen Entwicklung schon erreicht. Wenn aber Cromagnon A zu Cromagnon B sagt: »Fast alle unsere Kühe sind beim letzten Hochwasser ersoffen«, dann kriegt Cromagnon B einen gehörigen Schreck und ist sehr beeindruckt. Der amerikanische Psychologe Paul Slovic hat dazu einmal systematische Versuche angestellt. Unter anderem hat er verschiedene Gruppen von Studenten gebeten zu entscheiden, in welchem Umfang, auf einer Skala von 0 bis 20, sie gewisse MaÃnahmen für eine Verbesserung der Flugsicherheit unterstützen würden. Bei der einen würden langfristig 180 Passagiere jährlich gerettet werden, bei der anderen 98 Prozent von 180. Bei 98 Prozent von 180 war die Unterstützung gröÃer.
Die nackte Zahl 180 sagt den meisten Menschen nichts, sie ist zu abstrakt, wir können sie nicht fühlen. Aber das Wort »viel«, das fühlen wir. Und 98 Prozent ist so gut wie alle. Wenn wir so gut wie alle retten können, ist das doch etwas Tolles, oder?
Ãber die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war es unwichtig zu wissen â und hat auch denen, die es wussten, keinen Vorteil gebracht â, ob zwölf oder 15 Wölfe um das Lager schleichen, ob man sieben, acht, neun oder zehn Kinder hat, ob es 20, 30 oder 40 Tage regnet. Grobe Informationen wie zu viel, zu wenig, mehr als gestern reichten völlig aus. Erst vor wenigen Tausend Jahren, das heiÃt bei Generation 6850, als man anfing, mit Nachbarstämmen Vieh zu tauschen oder Sägezähne zu verkaufen, und erst recht als die Herrscher anfingen, Steuern zu erheben oder ihre Untertanen abzuzählen, wurde es auf einmal wichtig, mit ebendiesen Zahlen vernünftig umzugehen. Aber da war der Zug der Gene schon längst in eine andere Richtung abgefahren. Und so hört noch heute bei den meisten Menschen die Vorstellung von Zahlen bei rund 1000 auf. Mit einer Million wissen nur noch wenige
Weitere Kostenlose Bücher