Die Angst der Woche
1994 gibt es im Internet eine Bürgerinitiative zum DHMO-Verbot, und obwohl sich dieser Scherz inzwischen herumgesprochen haben sollte, fallen immer wieder Menschen darauf herein. Im März 2004 wäre es beinahe zu einer Abstimmung im Ortsparlament der kalifornischen Stadt Aliso Viejo über den Antrag gekommen, bei allen städtischen Veranstaltungen den Einsatz von »foam containers« zu verbieten, diese enthielten das gefährliche DHMO. Und im Jahr 2007 lieà sich tatsächlich ein gestandener Politiker, der neuseeländische Parlamentsabgeordnete Jacqui Dean, von besorgten Bürgern dazu bewegen, beim Gesundheitsminister nachzufragen, was er gegen das Umweltgift DHMO zu tun gedenke.
Warum haben es Witzbolde mit diesem Scherz so leicht? Weil bei vielen Zeitgenossen offenbar das Denken aufhört, sobald auch nur der Name einer chemischen Substanz ertönt. »Die verunsicherten Deutschen sehen sich einem Dauerbombardement von chemischen Giftstoffen aus Wasser, Boden oder Luft ausgesetzt. Jeder zweite glaubt deshalb nicht mehr daran ⦠dass es möglich sei, gesund zu leben« (Der Spiegel) . Der Verstand gibt die Kontrolle ab, der Bauch übernimmt. Ich habe in Kapitel 5 gezeigt, warum das in den Genen des nackten Affen genau so vorgesehen und über einen guten Teil der Menschheitsgeschichte auch sehr nützlich gewesen ist. Aber heute ist dieser Mechanismus kontraproduktiv.
Ich nenne diese Krankheit einmal Chemophobie. Sie ist nur sehr schwer zu behandeln, und ihre Häufigkeit nimmt mit wachsender Bildung und sozialem Status der Patienten zu.
Chemophobie ist nicht das Gleiche wie eine »echte« Krankheit namens MCS = »Multiple Chemical Sensitivity« = mehrfache Chemikalien-Unverträglichkeit. Diese kann von Schläfrigkeit über innere Unruhe, Mattheit, Licht- und Geruchsempfindlichkeit, Kopfschmerzen, Augenbrennen, Schwindel und Schwitzen bis hin zu Ohnmachtsanfällen an die 20 Symptome auf einmal auslösen und quält derzeit rund 10 000 Menschen in Deutschland. Die Zahl der Chemophoben dagegen geht in die Millionen. Ãber 80 Prozent aller Bundesbürger, das sind 60 Millionen, sind etwa besorgt darüber, dass sich synthetische Chemikalien im menschlichen Organismus und in der Umwelt anreichern. Auf die Frage »Wenn ihr an die chemische Industrie denkt, was fällt euch als Erstes ein?« kommen nur allzu oft Antworten wie »Gefahren für die Arbeiter und Anwohner«, »Unfälle« oder »Gifte, Gase, Umweltverschmutzung«.
Mein amerikanischer Statistikerkollege W. Kip Viscusi hat einmal untersucht, wie sehr diese Chemophobie unsere Einschätzung von Risiken und öffentlichen Anstrengungen zu deren Bekämpfung verzerrt (»Synthetic Risk Bias«). Dazu hat er 51 giftige Chemikalien anhand ihres sogenannten TD50-Werts nach Gefährlichkeit sortiert. Die TD50-Dosis ist diejenige Menge des Gifts pro Kilogramm Körpergewicht, die bei täglicher Einnahme die Hälfte aller diesem Gift ausgesetzten Lebewesen sterben lässt. Das kann man natürlich nicht an Menschen ausprobieren, aber für Mäuse und Ratten liegen diese Werte vor. Für die armen Tiere nicht sehr angenehm, aber immerhin weià man dann, welche Gifte â zumindest für Ratten und Mäuse â gefährlicher sind als andere.
Was man nun erwarten würde, ist, dass die gefährlichen Gifte am ehesten reguliert und mit Kontrollen überzogen werden: Je gefährlicher eine Substanz, desto vorsichtiger ist damit umzugehen.
Die Wirklichkeit sieht aber, wie Viscusi herausfand, anders aus. »Das überraschende Ergebnis ist, dass die GröÃe des Risikos nur eine kleine Rolle spielt. Ob und wie oft eine Chemikalie kontrolliert wird, hängt vor allem davon ab, ob sie synthetisch oder natürlich ist.« Denn vor allem, wenn die Chemikalie einen unverständlichen, seltsam klingenden künstlichen Namen hat, haben die Menschen Angst davor; vor allem dann wird reguliert und kontrolliert. Blausäure dagegen â welch ein schöner Name â gibt es in groÃen Mengen auch in der Natur, wer regt sich denn schon über so was auf?
Â
Â
In Europa ist es vor allem die EU-Kommission in Brüssel, die hier als Speerspitze der Unvernunft und Ressourcenverschwendung agiert. Sie war die treibende Kraft hinter der Verordnung Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
Weitere Kostenlose Bücher