Die Angst des wei�en Mannes
Umkreis des Jokhang-Tempels werden kitschige Devotionalien feilgeboten. Die Zeit, als dem Reisenden noch echte Tankas verkauft wurden, grell gefärbte Darstellungen aus jener furchterregenden Dämonenwelt, die für die tantrische Form des tibetischen Buddhismus bezeichnend ist, gehört längst der Vergangenheit an. Mir fällt die Überzahl von Han-Chinesen auf, die nicht nur an ihrer hellen Hautfarbe als eth nische Fremdkörper zu erkennen sind.
Natürlich mangelt es nicht an Polizisten in grasgrüner Uniform mit den breiten goldenen Tressen. In erdrückender Zahl bewegen sich die chinesischen Touristen in der für sie exotischen Umwelt. Sie photographieren mindestens so intensiv und unaufhörlich wie japanische Ferienreisende. Unter der Führung ihrer Gruppenleiter hüten sie sich zwar, sich in den bizarren Heiligtümern unziemlich aufzuführen, aber irgendwie beobachten sie die vom Gipfelsturm, der eisigen Höhenluft und einer kargen Existenz gezeichneten Ein heimischen mit einem angeborenen Gefühl kultureller Überlegen heit, mit ähnlichem Abstand wie weiße Amerikaner die überleben den Indianer in ihren Reservaten.
Auch die gescheite Fangyi steht der fremden Umgebung recht verständnislos gegenüber, und ich habe von ihr – abgesehen von ein paar Propagandasprüchen, die die enge Verbundenheit der Au tonomen Region mit der brüderlichen Volksrepublik betonen – keinerlei befriedigende Auskunft über Land und Leute erhalten können.
Wie viele Einwohner heute in Lhasa leben, lautete eine meiner ersten Fragen. In den Reiseführern war die Zahl von 200 000 Menschen angegeben, aber das entspricht nicht den Aussagen meiner Begleiter. Der Tibeter Wang Chuk nennt die Zahl 40 000, wird jedoch von Fangyi belehrt, die Bevölkerung Lhasas beziffere sich auf 100 000. Wang Chuk findet für diesen Widerspruch eine hintergründige und aufschlußreiche Erklärung: »Das mag stimmen«, räumt er ein, »es leben hier eben nur 40 000 Tibeter, aber 60 000 Chinesen.«Bei dieser Gelegenheit stelle ich fest, daß die beiden sich nur mit großen Schwierigkeiten auf Chinesisch verständigen können, so daß sie meist auf ihr relativ bescheidenes Englischvokabular zurückgreifen, um miteinander zu kommunizieren.
An rotgewandeten Lamas fehlt es nicht im Stadtbild. Vor allem sind sie zu Hunderten in den riesigen Monasterien am Stadtrand zu finden. Nicht weit davon entfernt hat die Volksbefreiungsarmee eine im chinesischen Stil gebaute, durch hohes Mauerwerk ge schützte Kaserne errichtet. Durch das Eingangstor erkenne ich den einzigen chinesischen Schriftzug, den ich zu entziffern vermag. Ich hatte ihn als Titel meiner ersten Fernsehdokumentation über das China der späten Kulturrevolution verwendet, und die Losung des Großen Vorsitzenden, die der Volksbefreiungsarmee immer noch die Richtung weist, lautet: »Dem Volke dienen!«
Auch in Lhasa werden umfangreiche Vorbereitungen getroffen für die Olympiade, die im August 2008 stattfinden und in Tibet durch einen spektakulären Höhepunkt eingeleitet werden soll. Das Olympische Feuer ist dann tatsächlich von einer Bergsteigermann schaft auf den Gipfel des Mount Everest getragen worden. Im ge legentlichen Gespräch mit sprachkundigen Funktionären des Rei sebüros, die mir ansonsten durch geschniegelte Eleganz und einen in China ganz ungewöhnlichen Mangel an Respekt vor meinem ho hen Alter unangenehm auffallen, erfahre ich, mit welch ungestü mem Geltungsbedürfnis, mit welch patriotischem Triumphgefühl die Masse der Han-Chinesen – ganz unabhängig von ihrer politi schen Ausrichtung – diesem sportlichen Weltereignis und dem er warteten Regen an Goldmedaillen entgegenfiebern. Auf die Olym piade von Peking konzentrierte sich bereits der geballte Ehrgeiz des Imperiums.
Sperrzoneam Himalay a
Das eigentliche Ziel meiner Tibetreise in diesem Sommer 2007 gilt der Erkundung der neuen Verbindungswege, die über den Taple-Paß im Himalaya in Richtung Indien ausgebaut wurden. In Peking war die Rede davon, die Zugverbindung, die Lhasa erreicht hat, bis zur Grenze des ehemals unabhängigen Fürstentums Sikkim zu füh ren und, wenn möglich, eine Allwetterverbindung von Autobahn und Schienen in Richtung auf die Häfen Bengalens, zumal Kal kutta, zu realisieren. Ein solch organischer Kommunikationsstrang besäße auch den Vorteil einer terrestrischen Transportmöglichkeit, die den langwierigen und eventuell problematischen Seeweg durch die Straße von Malacca drastisch verkürzen und jedem
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