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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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philosophischen, ja literari schen Examina gebunden war, die – theoretisch zumindest – jedem begabten Untertan des Kaisers offenstanden, daß die Rangordnung der hohen Verwaltung einer »Meritokratie« entsprach, von der im damaligen Europa kaum jemand zu träumen wagte, schürte zusätz liche Begeisterung.
    Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts entdeckte ein utopisches Spiegelbild ihrer eigenen Wunschvorstellungen in jenem fernen Imperium des Ostens, das Europa bereits mit seinen Porzellanfiguren entzückte. Die Mode der »chinoiseries« erfreute die Höfe des Abendlandes. Friedrich der Große ließ im Park von Sanssouci einen chinesischen Pavillon errichten, und die Philosophen – Leibniz,Voltaire und Fénelon an der Spitze – waren des Lobes voll für eine asiatische Staatsform, die Friedfertigkeit, Toleranz, geistige Harmonie und vor allem die Priorität der Gebildeten zu garantieren schien. Konfuzius, der alte Lehrmeister, der fünfhundert Jahre vor Christus den Söhnen des Drachen den Weg des Einklangs zwischen Himmel und Erde gewiesen hatte, wurde an hervorragender Stelle in das Pantheon der »Lumières« eingereiht.
    Wie plötzlich und unerbittlich der Verfall eines Imperiums ablau fen kann, das sich eben noch als Zentrum des Universums betrach tete, dem alle anderen mehr oder minder barbarischen Potentaten sich nur mit Geschenken und Huldigungen als Vasallen nähern konnten, wurde unter der späten Qing- oder Mandschu-Dynastie auf geradezu exemplarische Weise vorgeführt. Noch im Jahr 1793 hatte der letzte große Kaiser Qian Long von dem Botschafter Sei ner britischen Majestät Lord Macartney, der ein für beide Seiten vorteilhaftes Handelsabkommen aushandeln wollte, verlangt, daß er sich dem demütigenden Ritual des Kotau, dem dreimaligen Nie derknien mit jeweilig dreimaliger Verbeugung bis zum Boden, un terwürfe, was der Beauftragte Londons resolut ablehnte.
    Unter Qian Long hatte die lange Kette kaiserlicher Herrlichkeit noch einmal einen Höhepunkt erreicht. Er hatte die heutigen Au tonomen Regionen der Volksrepublik – die Mongolei, Ost-Turke stan und vor allem auch Tibet – unter die Autorität seines Drachen thrones gebracht. Sechzig Jahre lang hatte er regiert, und es war ihm gelungen, seinen Untertanen jene verheerenden Bürgerkriege und Bauernaufstände zu ersparen, die die Grundfesten des Staats gebäudes in vier Jahrtausenden immer wieder erschüttert hatten. Als Folge dieser Friedensperiode und einer klugen Agrarpolitik hatte sich die Bevölkerung Chinas von 150 Millionen Menschen auf das Doppelte, 300 Millionen, vermehrt. Zur gleichen Zeit verfügte England über ganze acht Millionen Einwohner.
    Dennoch war der Niedergang vorprogrammiert, wie der französische Schriftsteller und Politiker Alain Peyrefitte in seinem Buch L’Empire immobile (Das unbewegliche Reich) wenige Wochen vor den tragischen Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens im Jahr1989 schrieb. Kaiser Qian Long hatte – von langer Herrschaft ermattet – auf den Himmelsthron verzichtet. Er war sich bei aller Glorie seines Regnums wohl bewußt geworden, daß er einem verkrusteten, in steriler und immobiler Tradition erstarrten System verhaftet blieb, während Europa in einer Phase ungestümer industrieller Revolution und strahlender Fortschrittsgläubigkeit davonstürmte. Das Aufeinandertreffen von zwei so unterschiedlichen Kulturen war von vornherein entschieden.
    Es gehörte bis dahin zum Wesen Chinas, daß es ganz auf Behar rung ausgerichtet war. Konfuzius hatte bei der Dekretierung seines Gesellschaftsmodells, das – fern von aller Metaphysik – auf das har monische Zusammenleben der Menschen unter festgefügten Auto ritäten und Regeln ausgerichtet war, stets nach rückwärts geblickt, auf eine legendäre Vergangenheit, auf das »Goldene Zeitalter« der mythischen Dynastien Shang und Zhou, deren Perfektion es wie derherzustellen galt.
    Das Abendland hingegen – an erster Stelle das Königreich Eng land, das mit der protestantischen Reformation, mit dem Ausbau seiner welterobernden Flotte, dem Aufkommen einer dynamischen Ethik von Handel und Bereicherung sich schon auf eine technische Revolution zubewegte – blickte gebannt auf die Zukunft und wid mete sich der Erfüllung seiner »great expectations«.
    Niemals hat sich der westliche Imperialismus so skrupellos und raffgierig dekuvriert wie bei dem Opiumkrieg 1839. Das wesent liche Ziel Londons war es, den gewaltigen chinesischen Markt für den

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